DIE AUSSTELLUNGEN
UND KASSETTENKATALOGE
DES STÄDTISCHEN MUSEUMS
MÖNCHENGLADBACH
1967–1978

Digitales Archivprojekt
initiiert von Susanne Rennert und Susanne Titz

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RICHARD LONG. 4 Sculptures

RICHARD LONG. 4 Sculptures RICHARD LONG, Museum Mönchengladbach 1970, Raum VII/VIII: Sculpture (3), Foto: Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Grundriss Erdgeschoss Obergeschoss 2 neu
Einladungskarte RICHARD LONG. 4 Sculptures, 1970

RICHARD LONG. 4 Sculptures, 16.7. – 30.8.1970
Richard Long (1945 Bristol /GB – lebt und arbeitet in Bristol und London /GB)

EG / Hochparterre : Gartensaal
1 OG: alle Räume (VI, VII, VIII und IX)

Rekonstruktion und Text: Susanne Rennert 

I started my professional career in the Rhineland. Not my career as an artist.1(Richard Long, 2016)

Richard Longs Ausstellung kam durch die Vermittlung Konrad Fischers zustande, der im Herbst 1968 die erste Einzelausstellung des britischen Land Art-Künstlers in seiner Galerie präsentierte.2Am 3.12.1969 schrieb Fischer an Long, der erst 1968 sein Studium an der St. Martin´s School of Art in London beendet hatte: 

Dear Richard! […] Another Thing: Museum Mönchengladbach, Dr. Cladders – you know. He is interested to do something with you in 1970. What do you think? It could be interesting: Krefeld outside show, Mönchengladbach inside show. (Some pieces – documentation, slide photos) but it is of course all up to you.“3

Johannes Cladders und das Museum an der Bismarckstraße 97 waren Richard Long vom Aufbau der Ausstellung Carl Andre im Herbst 1968 bekannt, bei dem er Andre geholfen hatte. Im darauffolgenden Jahr war Long dann zweimal im Krefelder Museum Haus Lange präsent: Seit Juli 1969 war im Park von Museum Haus Lange Richard Long Exhibition One Year zu sehen. Hier hatte der Künstler, der zur selben Zeit am selben Ort an Harald Szeemanns When Attitudes Become Form / Vorstellungen nehmen Form an teilnahm, ebenso zurückhaltende wie substantielle Eingriffe in der Parklandschaft vorgenommen: Durch Aufschütten, Vertiefen oder Umbetten von Erdboden schuf er drei Skulpturen, die den Transformationsprozessen der Natur ausgesetzt wurden. 

4 SCULPTURES IM MUSEUM MÖNCHENGLADBACH

Als im Juli 1970 die Krefelder Ausstellung endete, wurde 4 Sculptures im Museum in Mönchengladbach eröffnet. Hier bespielte Long den Gartensaal und das gesamte Obergeschoss. 

Cladders nahm die Planungen am Jahresanfang 1970 auf, wie aus seinem ersten Brief an den Künstler hervorgeht, der im Archiv des Museum Abteiberg erhalten ist: Konrad Fischer told me that you are interested in a show in Mönchengladbach and that you need for preparing a drawing of the house. Here it is. Thank you very much that you agreed to the show. […] If you are in Germany I hope to see you and to discuss the plans and details.“4 Die schriftliche Zusage Richard Longs erfolgte verzögert erst im April, auf die Cladders unverzüglich antwortete: When you come in May to Düsseldorf I hope to see you. Then we can speak about the exhibition and the catalogue which I will begin to prepare as soon as possible. I hope in your aid in this matter.“ 5 Dieses Treffen wurde offenbar realisiert. Long schickte fotografisches Material für den Kassettenkatalog, produzierte auch eine Arbeit neu, die er dort dokumentiert sehen wollte.“6Am 23.6.1970 schrieb Cladders an Long: Our Hollein exh. will end on July 5th. We hope that the rooms will be ready in a few days later. The opening of the show is on July 16th. Please let me know when you will come to build up the show. Poster and catalog are nearly ready.“7


Cladders konnte davon ausgehen, dass speziell zum Thema Land Art, das damals große Aktualität besaß, eine gewisse Vorkenntnis beim Publikum vorhanden war. Er selbst hielt am 21.Mai einen Vortrag zu diesem Thema im Museum Mönchengladbach.8 Longs prozesshaftes Arbeiten war den deutschen Fernsehzuschauer:innen zudem durch dessen Beitrag für Gerry Schums Film LAND ART vermittelt worden, der 1969 im Rahmen von Schums erster Fernsehausstellung ausgestrahlt worden war. Schums Film Walking a Straight 10 Mile Line Forward and Back Shooting every Half Mile dokumentiert eine Wanderung Longs durch das englische Dartmoor – eine, so der Künstler im Nachhinein, ziemlich formale Arbeit über Zeit, Bewegung, Vermessung und die Justierung von Horizonten.“9

I just did what I wanted to do. I realized the show without discussion.“ (Long, 2016)10

Die Aufbauwoche in Mönchengladbach gestaltete Long als einen offenen performativen Prozess. Die Konzeption der Ausstellung entwickelte er weitgehend in situ.11 In einem Rhythmus, in dem sich Handlung und Aktion immer wieder mit Phasen meditativer Ruhe abwechselten, entstanden so im Verlauf mehrerer Tage vier Arbeiten, die das bürgerliche Wohnhaus in einen kontemplativen Ort verwandelten, an dem sich die Grenzen zwischen Innen- und Außen‑, Kultur- und Natur-Raum auflösten. Bis auf die Weidenstöckchen, die Long am River Avon nahe seiner Heimatstadt Bristol gesammelt und nach Mönchengladbach mitgebracht hatte12, wurde das Ausstellungsmaterial direkt vor Ort beschafft: Kiefernadeln aus dem nahen Hardter Wald; lehmige gelbe und graue Tonerde – sogenannter clay“ – vom Gartenamt der Stadt.13Der Künstler: the idea of making art out of nothing.“14

John Anthony Thwaites in den Aachener Nachrichten vom 31.7.1970 über Longs Sculpture 1 im Gartensaal: Das Museum: ein Kulturgefängnis des 19. Jahrhunderts. Im ersten Saal ist nichts. Doch ja, auf dem Parkettboden läuft länglich ein weißgrauer Pfad. Hin und her, so daß zwei Spitzen oder Wenden an jedem Ende entstehen. Es sind Fußstapfen, die über und übereinander getreten sind. Sie verlängern den Raum, aber sie öffnen“ ihn nicht. […] Aber ihr Hin- und Herpendeln bringt eine Schwingung in den Raum.“

Sculpture 3 im 1. Obergeschoss (Raum IX) entstand ebenfalls im Prozess des Gehens: Mit gelbem Lehm trat Long in der hinteren Raumhälfte ein strahlenförmiges Quadrat aus gleichbreiten Wegen“. Im Raum VI des ersten Obergeschosses legte der Künstler an derselben Stelle, an der zwei Jahre vorher Carl Andre eines seiner Mönchengladbach Squares aus schweren Stahlplatten ausgelegt hatte, nun Sculpture 2 gleichsam als dessen fragiles Gegenstück aus dünnen Weidenstöcken: Ein Quadrat, bestehend aus 14 konzentrischen Quadraten, analog zum Raum ausgerichtet, das auf dem Fischgratmuster des Parketts optisch in Bewegung geriet. Sculpture 4 verband zwei Ausstellungsräume durch eine breite, dicht gelegte Spur aus Kiefernadeln, die in einer Spirale endete (Raum VII und VIII). 


ERÖFFNUNG DER AUSSTELLUNG, FOTOS: ALBERT WEBER

Longs ephemere Skulpturen auf dem Parkettboden, die die traditionelle Vorstellung von Plastik (Sockel, geschlossenes Volumen) so verhalten wie radikal auflösten, erhielten in der regionalen und überregionalen Presse große Zustimmung. Allein die Westdeutsche Zeitung berichtete viermal. Davon, dass die hier vorgeführte Erweiterung kulturellen Raums die Phantasie beflügelte, zeugen die Titel der Rezensionen: Gegen Entwurzelung des Menschen“, Ein Weg aus der Krankheit. Richard Long verlegt die Natur ins Museum“, Raum wird zur Landschaft“, Spirale aus Tannennadeln: Deutscher Wald“, Zuerst geistige Emanzipation“ oder Spur aus Nadeln.“ Am 28.8.1970 schrieb Cladders an den Künstler: The show is a success. I am glad to have it.“15

Die vier Sculptures wurden nach Abschluss der Ausstellung zerstört und – anders als später üblich – weder vom Künstler mit einem Zertifikat versehen noch fotografisch dokumentiert.

Kassettenkatalog RICHARD LONG, 1970
Kassettenkatalog RICHARD LONG, 1970
Kassettenkatalog RICHARD LONG, 1970
Kassettenkatalog, Innendeckel
Kassettenkatalog, Innendeckel
Kassettenkatalog, Innendeckel

Zum Kassettenkatalog, der durch die Konzeption des Innendeckels und des Kassettenbodens einen konkreten Bezug zur Ausstellung herstellt, erinnerte Richard Long 2016: The box was not my idea.“16 Ein in die Schachtel eingelegtes Buch mit dem Titel RICHARD LONG SKULPTURES [sic!] dokumentiert Werke aus den Jahren 1966 bis 1970, die auf Wanderungen und im Außenraum realisiert in England, Deutschland, Afrika und Amerika entstanden. Auch der 1969 für Longs Krefelder Ausstellung geschaffene, mit Gras bewachsene, erhabene Ring im Park von Haus Lange ist hier im Foto abgebildet. Er existiert bis heute. 

In Erinnerung an die Spirale aus Kiefernadeln (Sculpture 3), die Long 1970 im Museum Mönchengladbach gelegt hatte, schuf er 2017 im Rahmen der Ausstellung VON DA AN. Räume, Werke, Vergegenwärtigungen des Antimuseums 1967 – 1978 erneut eine solche Spirale im Museum Abteiberg.

Süddeutsche Zeitung, 30.7.1970
Süddeutsche Zeitung, 30.7.1970
Süddeutsche Zeitung, 30.7.1970
Rheinische Post, 22.7.1970
Rheinische Post, 22.7.1970
Rheinische Post, 22.7.1970

Quellenangaben / Anmerkungen

Johannes Cladders, Rede zur Eröffnung der Ausstellung

Seit zwei, drei Jahren ist von Land Art die Rede. Das ist ein Wort wie die anderen auch, eine Schublade zum Abordnen, ein dienliches Gerät. Nicht mehr - nicht weniger. Richard Long würde in die Schublade Land Art passen, mehr noch: dass sie angelegt werden musste, geht nicht zuletzt auch auf ihn zurück Er gehört mit zu den ersten, die sich in einer Weise künstlerisch betätigten, die dann mit dem Namen Land Art etikettiert wurde, weil sie in die vorhandenen Schubladen nicht passte. Seit 1965 datieren seine Arbeiten, die in dieses Schubfach gehören.

Die Kunst lässt sich zwar rubrizieren, doch sie ist keine Rubrik. Und der Künstler legt keine Akte an, sondern trägt vor. Die anderen mögen dann einordnen. Das ist nun mal so. In diesem Falle bin ich also der Einordnende. Jede Erklärung, jede Interpretation ist eo ipso eine Einordnung, eine Art von Rubrizierung, die nur mit Spalten und Schubladen operieren kann oder sie – gewollt oder ungewollt – doch zum Ergebnis hat. Stören wir uns also nicht an den Begriff Land Art. Er ist weder zu vermeiden noch undienlich.

Land Art ist eine Kunst, die es mit gewachsenem Landschaftsmaterial zu tun hat, mit Erde, Wasser und Stein und mit Materialien der Vegetation, wie Gras oder Äste, Blätter und Baumnadeln. Es lässt sich eine feine Unterscheidung zwischen Land Art und Earth Art – auch ein jüngst oft gebrauchter Begriff – konstruieren. Demnach ist Land Art eine Kunst, die sich in der freien Landschaft entwickelt, wobei es gleichgültig ist, ob sie mit den Materialien der Landschaft selbst arbeitet, also mit Steinen oder Sand, mit Erde oder Blättern, oder ob sie in die Landschaft etwas Künstliches einbringt, Teile aus Eisen etwa oder Backsteine, Kunststoff-Folien oder Farbpigmente. Entscheidend ist die künstliche, wenn auch oft oder sogar meist unscheinbare Veränderung, und zwar innerhalb der Landschaft, innerhalb des Außenraums, innerhalb der sogenannten Natur.

Earth Art könnte man als eine künstlerische Vorgehensweise umschreiben, die die Künstlichkeit eines vorgegebenen Raumes, eines Hauses oder eines anderen umbauten Raumes nutzt, um durch einfaches Verbringen erdbezogener, „natürlicher“ Materialien in solche Räumlichkeiten den Akt der Künstlichkeit zu setzen. Denn solche Materialien gehören üblicherweise und erfahrungsgemäß nicht in solche Räume. In diese Ausstellung sind Lehm, Kiefernnadeln und zu kleinen Stäbchen zerschnittene Baumruten verbracht. Das gehört ganz offensichtlich in die Rubrik Earth Art, die so etwas wie eine Spezies der Land Art ist. Richard Long wird sicherlich gegen solche Einordnung nichts einzuwenden haben, aber er würde sie auch nicht für wichtig erachten oder gar für verbindlich. Ich nehme das an – gesprochen habe ich mit ihm nicht darüber. Ich nehme das an, weil ich ihn für einen Künstler halte, und als Künstler können ihm Schubladen nicht dienlich, eher hinderlich sein. Seine Sache ist das Machen, das Erstellen. Und für das, was er für diese Ausstellung gemacht hat, bemüht er keinen neuen Richtungsbegriff, kein Wort, das eine neue Tendenz der Kunst bezeichnet, sondern er greift auf den alten Disziplin-Begriff „Skulptur“ zurück. Was hier auf den Parkettböden der Ausstellungsräume zu sehen ist, nennt er Skulptur. Vier solcher Skulpturen sind es insgesamt. „4 sculptures“ nannte er deshalb sein Exponat – und wir nahmen diese englische Benennung zum Titel der Ausstellung.

Von Skulpturen im herkömmlichen Sinne kann kaum die Rede sein. Dazu fehlt es dem am Boden Ausgebreiteten an der dritten Dimension. Die Nähe zu Zeichnung und Bild scheint eher vorhanden. Die paar Millimeter-Lehmauflage, die ein paar Zentimeter dicke Nadelschicht, die zwischen einem Viertel- und einem Zentimeter schwankende Stärke der Hölzchen rechtfertigen nicht, von einer dreidimensionalen Sache zu sprechen. Solche Auflagen kennt schließlich auch die pastose Malerei. Vielleicht noch stärkeren Auftrag.

Dennoch: Richard Long würde seine Arbeit nie der Malerei zurechnen. Und es ist an uns, die Frage nach dem Warum zu stellen. Jedoch nicht mit dem alleinigen Wunsch und Ziel, durch rationale Argumente unsere eigene Vorstellung von dem, was Skulptur zu sein hat, bestätigt oder auch nicht bestätigt zu erhalten, sondern mit dem Willen, eine Sache zu verstehen; eben nur die Sache selbst und nicht die vorgefaßte Vorstellung zu meinen. Die Frage nach dem Warum beantwortet sich letztlich nur durch Einsehen, und zwar im wortwörtlichen Verständnis dieses Wortes.

Die auf dem Boden ausgebreiteten Arbeiten tragen alle einen stark räumlichen Zug. Und zwar in der Hinsicht, als sie – zwar jeweils sehr verschieden – Ausschnitte aus einem größeren Zusammenhang sind. Die beiden mit Lehm getretenen Arbeiten –hier unten im Saal und die sternförmige im oberen Ausstellungsraum – sind durch Begehen des Raumes entstanden. Da man das den Arbeiten noch ansieht, bleibt der Raum selbst mit einbezogen mit allen seinen Qualitäten der Dreidimensionalität und auch mit der Zeit, die das Schreiten erfordert. Doch nicht nur diese geschlossenen Räume sind einbezogen, sondern auch der Außenraum in beliebig zunehmender Größe und Weite. Bei der sternförmigen Arbeit im Obergeschoss wird das besonders deutlich. Die Geh-Linien laufen alle in einem Punkt zusammen. In der auseinanderlaufenden Richtung sind sie sich beliebig weit ausdehnend denkbar. Sie haben eine praktische, aber keine ideelle Grenze. Ich werde gerade bei diesen Arbeiten an die Probleme erinnert, die mit der Durchlöcherung der Skulptur – am weitesten bekannt sind die durchlöcherten Skulpturen von Henry Moore – auftauchten. Skulptur war bis dahin das geschlossene Volumen, das als feste Masse erhaltene Stück. Schon die impressionistische Bildhauerei eines Rodin hatte durch sensible Auflockerung der Außenhaut dem Licht mehr Angriffspunkte und damit mehr Einlass, mehr Eindringen gewährt. Dem Licht, das heißt, einem Element des Außenraums, und zwar einem unendlich weiten, das das vorgegebene begrenzte Volumen zwar angriff – man sprach damals nicht zufällig von der Auflösung der Skulptur – ‚ doch gleichzeitig, sozusagen automatisch und zwangsläufig in sein unbegrenztes Volumen hineinnahm.

Berto Lardera trieb zum Beispiel anfangs der 50er Jahre die Auflösung durch Durchlöcherung so weit, dass er nur flache und zudem meist noch durchlöcherte und an den Rändern unruhig gezackte Metallplatten so gegeneinander und untereinander verschachtelt aufstellte, dass sie allen Qualitäten des Raumes völlig freien Zugang gewährten. Mit dem Effekt, dass sich die Volumen dieser Qualitäten dem selbst kaum noch voluminösen Werk mitteilten und ihm im Endergebnis einen größeren Raum sicherten, als der allein auf das Material konzentrierte sein konnte.

Doch schon weit vor Lardera hatte Alexander Calder in seinen Mobiles zarteste Gebilde erstellt, die, wenn man sie zusammenlegt, in das Nichts einer flachen Kiste verpackbar sind, frei aufgehängt jedoch eine beträchtliche Räumlichkeit gewinnen. Und sie wird noch umso größer, als sich ihr Volumen erst in der zur Bewegung erforderlichen Zeit vollendet. Und eine solche, volumenzugehörige und Volumen bildende Bewegung ist auch den Skulpturen von Long eigen. Es ist die eingefrorene Bewegung des Machens, die im sehenden Auge „auftaucht“ und zusammen mit dem sie konkret umgebenden und dem um sie gedachten Raum ein spezifisches, vom Material letztlich unabhängiges Raumvolumen schafft.

In der Einleitung zum Katalog der Ausstellung habe ich geschrieben, Richard Long besitze keine Beziehung zur hausüblichen Publikation in Kassettenform. Diese Kataloge tragen einen gewissen Objektcharakter, mehr zum Beispiel als ein Buch, das zwar auch Gegenstand ist, seinen dinghaften Aspekt jedoch in der gewohnten Dienlichkeit als Mitteilungsträger verschlissen hat. Er konnte deswegen an diesem Katalog auch nur in der Zusammenstellung einer Art von Bilderbuch einiger seiner früheren Arbeiten teilnehmen. Ich musste das respektieren, und ich tat es, indem ich dem der Kassette einliegenden Buch ein leicht von der Kassettenform abweichendes Maß gab, die Distanzierung vom Objektcharakter anzudeuten.

Im Katalog ist auch ein Text von Richard Long, den er speziell für diesen Katalog schrieb, abgedruckt. An diesem Text fällt die grammatische Form des Durativs auf. Der Durativ ist zwar im Englischen üblich, doch bei Long hat er auch seine eigeninterpretative Seite. Er ist die Stille des Andauernden, die Ruhe der Bewegung. Und genau das ist auch die Dimensionalität seiner Arbeiten, das Räumliche seiner Skulpturen.

In dem kleinsten der Räume des Obergeschosses befindet sich eine Skulptur, zusammengelegt aus Hölzchen, kurzen Stücken von Baumruten. Sie sind in Form von zur Mitte hin immer kleiner werdenden Quadraten zusammengelegt. Aber nicht nur kleiner, auch in der Rutenstärke immer dünner werdenden Quadraten. Die Rutenstärken scheinen zunächst nicht gravierend. Doch dem sehenden Auge öffnen sie sich zu einem Raum. Zu einem Raum, der die mathematischen Qualitäten nicht vordergründig nimmt, sondern der durch Einsehen entsteht, durch die Wahrnehmung eines zunächst unscheinbaren Wachstums, wie auch das Wachstum der Natur uns unscheinbar ist, bestenfalls durch Zeitraffer im Fotoverfahren darstellbar. Wachstum aber ist eine räumliche Qualität. Es beinhaltet dreidimensionale Ausdehnung und Zeit. Hier verborgen in der geometrischen Form des Quadrats, der Quadrate, die den Raum als Progression und Prozess erlebbar machen. Räumlichkeit, Volumen, Skulptur in der Fläche des Bodens.

Allerdings, wie schon betont, nicht Skulptur im herkömmlichen Sinne, wobei wir unter „herkömmlich“ auch das schon verstehen müssen, was wir hier mit den Namen Moore, Lardera und Calder für die Wandlungsfähigkeit des Begriffs anführen mussten. Immer noch ist bei den Wandlungen die Rede davon gewesen, dass dies nun nicht mehr Skulptur sei. Auch angesichts der Exponate von Long könnte man den Begriff aufgeben und einen neuen suchen. Es hat sich ja auch eingebürgert, die Werke junger Künstler ganz allgemein mit dem englischen Wort „piece“ zu belegen. Und das nicht nur, weil Englisch modern ist und man „up to date“ ist, wenn man sich solcher Ausdrücke bedient. Vielmehr steckt dahinter das Unbehagen an den alten Disziplinbegriffen – ob nun Skulptur, Malerei oder was auch immer – und zum Teil auch die Unfähigkeit, Neues auf seine disziplinäre Substanz hin zu durchdenken. Man macht es sich zwar weniger einfach, wenn man auf die Terminologie des Künstlers hört, ich finde aber, dass man es dennoch tun sollte, und zwar des verstehenden Einsehens wegen. Denn Begriffe, mögen sie selbst aus unreflektierter Tradition über die Lippen kommen, sind nicht zufällig. Und wenn sie das nicht sind, haben sie auch etwas zu sagen, zu bedeuten, zu deuten. Wenn Long auf dem Boden mit Lehm, Hölzchen oder Nadeln hätte malen wollen, hätte er auch wohl unwillkürlich zu dem Wort „painting“ gefunden. Er wählte aber „sculpture“.

In zwei der oberen Räume sehen Sie eine spiralförmige Auslegung aus Kiefernnadeln. Sie hat etwas zentralperspektivischen Charakter, insofern als sie sich vom Betrachtungspunkt her mit wachsender Distanz auch verjüngt. Es ist wie ein Weg, den man in der Ferne verlaufen sieht. Er verläuft sich allerdings nicht, sondern krümmt sich zurück zur Spirale. Dennoch bleibt der Eindruck eines Weges, eines Pfades. Die Kiefernnadeln wecken die Vorstellung Waldweg – und mit dieser Vorstellung ist die von schlanken Baumstämmen, von in den Raum vorstoßenden Vertikalen untrennbar verbunden. Ein räumliches Gebilde, lediglich angestoßen durch ein Detail, das alles andere wie von selbst hinzugewinnen lässt. Wieder finde ich mich im Vergleichsfeld der durchbrochenen und beweglichen Skulpturen. Auch sie setzen Punkte, zwar andere als hier, doch auch solche der gedachten Linien, die zwischen ihnen zu ziehen sind. Die Vorstellung ist an- und aufgerufen. In diesem Falle wird sie durch das Material selbst noch unterstützt. Das Auge und die Erfahrung lassen uns die Weichheit eines Waldbodens gegenwärtig werden, die Lautlosigkeit, letztlich die elementare Stille der sicherlich von tausend Tönen durchzogenen Natur.

Stille, Ruhe, Unscheinbarkeit, Unterordnung ohne Aufgabe, Anonymität sind die bleibenden Eindrücke aller Arbeiten von Long. Sie sind bescheiden wie selbstsicher zugleich. Sie sind nicht mehr und nicht weniger als sie eben sind. Wenn man in den Abbildungen, die er für den Katalog auswählte, blättert, liegt einem das zur Phrase gewordene „vom Winde verweht“ auf der Zunge. Das Beiläufige kommt zum Zuge, das Vergängliche, das Zeichenhafte. Ich habe ihn bei der Erstellung der Skulpturen beobachtet. Es ging über eine Woche. Er war beschäftigt, sorgfältig. Umständlich – so schien es – ‚ denn alle Konzentration begann wie zufällig, mit dem Aufnehmen von Maßen, dem Legen von Schnüren, dem Anrühren von Lehm, dem Spielen mit Ruten. Ich verstand jetzt stärker das Beiläufige, Prozesshafte, das aus seinem Katalogtext spricht. Ich will ihn daher abschließend zitieren:
„Wir warteten zwei Tage auf irgendein vorbeikommendes Fahrzeug zum Loitokitok, 70 Meilen entfernt. Die Massai sagten, es gäbe Löwen entlang der Strecke. Deshalb machten wir uns nicht zu Fuß auf. Roter Staub, aufgewirbelt von der schmutzigen Piste, bedeckte ringsum das Gras. Ich begann, zwei gerade Linien durch das Gras zu wandern, indem ich den Staub mit meinen Schuhen beim Gehen wegfegte. Vier Tage später bestiegen wir den Loitokitok. In einer Höhe von 19.000 Fuß begann die nächste Skulptur zu entstehen.“

KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG

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KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG
RICHARD LONG. 4 Sculptures, 16.7.–30.8.1970

Schachtel aus weiß kaschiertem Karton, roter Aufdruck auf Deckel und Seite, 20,3 × 16 × 2,3 cm 

Inhalt: Künstlerbuch

im Innendeckel aufgedruckt: Grundriss der Museumsräume 1. OG, mit Verweis auf die vier in der Ausstellung gezeigten Werke, nummeriert 1, 2, 3 und 4

im Schachtelboden aufgedruckt: Texte von J. Cladders (dt.) und Richard Long (engl., dt.)

eingelegtes Buch aus festem Karton mit Leinenrücken Richard Long Skulptures [sic] – England, Germany, Africa, America 1966 – 1970 mit 13 Abb. nach Fotos von Richard Long und einem Porträtfoto des Künstlers auf dem Titel, 18 S., 14 × 19,5 × 0,5 cm 

Auflage: 330 Exemplare + Belegexemplare

Preis in der Ausstellung: 8 DM

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Verzeichnis der ausgestellten Werke

o.T., (Sculpture), 1970
o.T., (Sculpture), 1970
o.T., (Sculpture), 1970
o.T., (Sculpture), 1970

alle Werke vor Ort entstanden und nach Ausstellungsende zerstört

Kassettenkatalog

Einladungskarte / Plakat / Druckerzeugnisse

Archiv Fotografien

Archiv Audio

Archiv Dokumente / Korrespondenz

Archiv Presse

Kurzankündigungen / Meldungen

o. V., Richard Long stellt aus, in: Westdeutsche Zeitung, 11.7.1970
o. V., Neue Museumsausstellung, in: Rheinische Post, 14.7.1970
Eo. Plumien, o. T., in: Die Welt (Aus: Kunst aus aller Welt in rheinischen Museen und Galerien), 21.8.1970

Berichte / Rezensionen / Kommentare

Wolfgang Stauch-von Quitzow, Skulptur auf dem Parkettboden. Richard Longs Earth-Art-Sculptures im Städtischen Museum, in: Westdeutsche Zeitung, 18.7.1970
Tr. [Richard Tristram], Raum wird zur Landschaft. Die „Skulptures“ des Richard Long im Museum, in: Rheinische Post, 22.7.1970
Klaus U. Reinke, Zuerst geistige Emanzipation. Vier Skulpturen von Richard Long in Mönchengladbach, in:Süddeutsche Zeitung, 30.7.1970
John Anthony Thwaites, Gegen Entwurzelung des Menschen. Richard Longs „Four Sculptures“ im Museum Mönchengladbach, in: Aachener Nachrichten, 31.7.1970
Wolfgang Stauch-von Quitzow, Ein Fragezeichen aus Kiefernnadeln. Richard Longs „Erd-Kunst“ im Mönchengladbacher Museum, in: Aachener Volkszeitung, 5.8.1970
John Anthony Thwaites, Ein Weg aus der Krankheit. Richard Long verlegt die Natur ins Museum, in: Frankfurter Rundschau, 10.8.1970
E. B., Getretene Kunst. Ausstellung R. Long, in: Kölner Stadtanzeiger, 12.8.1970
John Anthony Thwaites, Frisch gestrichene Schocks. Timm Ulrichs und Richard Long in Krefeld und Mönchengladbach, in: Christ und Welt, 14.8.1970
Klaus U. Reinke, Spur aus Nadeln. Der Engländer Long in Mönchengladbach, in: Westdeutsche Zeitung, 18.8.1970
CJ, Spirale aus Tannennadeln: Deutscher Wald. Neueste Kunst verzichtet auf Objekte, in: Westdeutsche Zeitung, 31.8.1970
Klaus Flemming, Nadelstreu und Lehmspuren, in: Die Kunst und das Schöne Heim, Heft 9, Sept. 1970
Klaus Honnef, Richard Long, in: Das Kunstwerk, Okt./Nov. 1970