DIE AUSSTELLUNGEN
UND KASSETTENKATALOGE
DES STÄDTISCHEN MUSEUMS
MÖNCHENGLADBACH
1967–1978

Digitales Archivprojekt
initiiert von Susanne Rennert und Susanne Titz

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DIE AUSSTELLUNGEN UND KASSETTENKATALOGE DES STÄDTISCHEN MUSEUMS MÖNCHENGLADBACH 1967 – 1978. Über das Projekt 

Susanne Rennert und Susanne Titz


I

Das Museum Abteiberg veröffentlicht sein historisches Forschungsprojekt Die Ausstellungen und Kassettenkataloge des Städtischen Museums Mönchengladbach 19671978 als ein digitales Archiv. Es dokumentiert und vergegenwärtigt die Vorgeschichte des Museums Abteiberg und das legendär gewordene Ausstellungs- und Vermittlungsprogramm des damaligen Museumsdirektors Johannes Cladders. Das digitale Archiv ist ein pilotartiges Konzept, dessen Entwurf und Umsetzung durch das Förderprogramm Museum Digital des Landes Nordrhein-Westfalen ermöglicht wurde. Im großen Vorlauf seiner Forschungsarbeit wurde das Museum gefördert durch den Landschaftsverband Rheinland, das Land Nordrhein-Westfalen, die Kunststiftung NRW und die Kulturstiftung des Bundes.

II

Und deswegen habe ich den Begriff Antimuseum gewählt, weil ich den Begriff Antikunst so formulierte,daß Antikunst nicht etwas tut, was keine Kunst sein kann. Sondern eine permanente Kunsterneuerung ist. Nicht eine negative, sondern eine sehr positive Formulierung. So wie die Antikunst eines Dadaismus, wo ja auch der Begriff verwandt wurde. Und so wollte ich den Begriff übernehmen für das Museum. Sozusagen ein Prozess der ständigen Kreation von Kunst. Wobei diese Institution nicht die Werke macht, sondern den Part des Betrachters einnimmt, der das Werk zum Konsens in der Gesellschaft führt als ein Werk der Kunst.(Johannes Cladders, 1999)

Johannes Cladders (geb. 1924 in Krefeld, gest. 2009 ebd.) zählt mit Willem Sandberg (1897 – 1984) und Paul Wember (1913 – 1987) als zentralen Anregern und mit Pontus Hulten (1924 – 2006) und Harald Szeemann (1933 – 2005) als Generationsgenossen zu jenen progressiven Museumsdirektoren im Europa nach 1945, die durch ihre visionäre Ausstellungs- und Publikationstätigkeit das Museum konsequent der zeitgenössischen Kunst öffneten und damit langfristig Prozesse in Gang setzten, die produktiv ins 21. Jahrhundert hineinwirken.

Die Frage, was eine Ausstellung, eine Institution, ein Museum für die Gesellschaft leisten kann, wurde hier neu zur Disposition gestellt. Auch das Format Ausstellungskatalog wurde – als ein Objekt und komplementäres Medium – neu definiert.

III

Johannes Cladders, der seine Amtszeit als neuer Direktor des Städtischen Museums im September 1967 mit der ersten großen Museumsretrospektive von Joseph Beuys eröffnete, entwickelte seine Ausstellungs- und Publikationspraxis in engem Zusammendenken mit den beteiligten Künstler:innen und schrieb damit internationale Kunstgeschichte. Eingebunden in ungemein effiziente Netzwerke (Künstler:innen, Galerist:innen, Museumsleute, Journalist:innen) öffnete Cladders die Institution Museum konsequent der zeitgenössischen Kunst. Mit historischem Bezug auf Marcel Duchamp, parallel zum erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys und den Fluxus- und Konzept-Künstler:innen realisierte Johannes Cladders ab 1967 ein Programm, in dem sich sein erweiterter Museumsbegriff manifestierte: das Antimuseum“.

IV

Im alten Städtischen Museum an der Bismarckstraße, einem neogotischen Patrizierhaus aus dem späten 19. Jahrhundert, initiierte Cladders erste Museumausstellungen junger Künstler und Künstlerinnen, die später weltberühmt wurden, darunter Carl Andre, Bernd und Hilla Becher, Hanne Darboven, Stanley Brouwn, Daniel Buren, Hans Hollein, Palermo, Panamarenko, Gerhard Richter, Ulrich Rückriem, Reiner Ruthenbeck, et al. Daneben wurden zahlreiche Ausstellungen mit lokalen, regionalen und historischen Bezügen präsentiert: Einzel‑, Sammlungs- und Themenausstellungen, in denen immer wieder auch Fragen der Vermittlung von Kunst und die Rolle der Museen thematisiert und reflektiert wurden. Insgesamt fanden im alten Städtischen Museum 86 Ausstellungen und Aktionen, drei Museumsfeste und zahlreiche Vorträge statt. 

Neben den Ausstellungen sind es die 35 Kassettenkataloge, die die Ära Cladders maßgeblich prägten. Als hybride Formate – zwischen Multiple, Ausstellungskatalog und Künstlerbuch – definierten die Kassettenkataloge das traditionelle Format Ausstellungskatalog“ radikal neu. Als Auflagenobjekte in kleiner Stückzahl produziert, waren die Schachteln meist schon am Eröffnungsabend vergriffen.

V

Die Ausstellungen und Kassettenkataloge des Städtischen Museums in Mönchengladbach sind in ihrer archivalischen Komplexität bisher nicht veröffentlicht worden. Sie stellen einen großen Fundus für die heute aktuellen Diskussionen um die Bedeutung von Kunst, Kultur und Museen dar. Vieles aus der Geschichte der 1960er und 70er Jahre wird heute verklärt dargestellt. Anderes ist indessen auch schwer recherchierbar bzw. ganz und gar unbekannt für das heutige Publikum.

Das digitale Archiv ist somit ein flexibles Medium, das die Möglichkeit beinhaltet, jene Deutungshoheit der Zeitgenossen aufzubrechen und zu verändern, die gerade in dieser Ära der Kulturgeschichte eine immense Rolle spielt (vgl. etwa die Literatur Joseph Beuys, Gerhard Richter). Es öffnet die Geschichte neu und lässt die Generationen der heutigen Gegenwart mit ihrem eigenen Blick, Neugier, Distanz, kritischer Reflexion in die Archivalien hineinblicken.

Vor diesem Hintergrund hat die historische Website einen emanzipatorischen und aufklärerischen Zug. Sie will das Publikum aktivieren im historischen Sinne der damaligen Kunst, mit einem großen Startbild von Materialien, das ein Gedankenbild sein könnte und die eigenen Wege durch die Mikrosite zu einem historischen Abenteuer macht. 

Das Museum Abteiberg will mit dem Archiv seiner Vorgeschichte 1967 bis 1978 an eine Utopie erinnern, die im anschließenden Museumsboom und unter der Herrschaft des Kunstmarkts verloren ging – und für unsere Zukunft nutzbar ist. 

Schließlich ist eine aktive Diskussion der vor 50 Jahren formulierten Ideale (Partizipation, Emanzipation, Transparenz) vor dem Hintergrund der globalen, sozio-ökonomischen und politischen Strukturveränderungen der heutigen Zeit aktueller denn je. Ein neuartiger aktiver Umgang mit dem Format Archiv“ im Internet kann die Multiperspektivität historischer Prozesse vergegenwärtigen und damit den digitalen Raum als einen demokratischen Raum neu vermitteln. 

VI

Das digitale Archiv ist ein Ort für die weitere Sammlung und Forschung. Es wurde als ein veränderlicher Manifestationsraum konzipiert; anders als im Falle von Print-Publikationen bleiben die Inhalte der Reportagetexte hier nicht zwangsläufig festgeschrieben. Sie lassen sich potentiell stetig ergänzen und erweitern. Womöglich wird die zukünftige Erschließung bislang unbekannter Dokumente neue überraschende Zusammenhänge sichtbar machen? In jedem Fall sollten sich die progressiven Aspekte kunsthistorischer Wissenschaft im offenen Format des digitalen Archivs besonders anschaulich entwickeln lassen.


Zum Kontext: Der Erfolg der Ausstellungs- und Publikationsgeschichte des Städtischen Museums Mönchengladbach

Der Erfolg der Ausstellungs- und Publikationsgeschichte des Städtischen Museums Mönchengladbach war von vielen Faktoren abhängig: Erstens von Cladders’ produktiver Zusammenarbeit mit dem Mönchengladbacher Stadtdirektor Busso Diekamp (1928 – 2020), einem promovierten Juristen, der – ab 1964 in Mönchengladbach tätig – auch für die Dezernate Recht und Ordnung, Schule und Kultur“ verantwortlich war. Als Kulturdezernent ähnlich einflussreich wie Kurt Hackenberg in Köln bildete der gleichermaßen pragmatisch wie intellektuell orientierte Diekamp von Beginn an eine kongeniale Doppelspitze mit Cladders (Diekamp 1977: Das Unverwechselbare einer Stadt ist ihre kulturelle Dimension“). In enger Zusammenarbeit mit dem – in kulturellen Angelegenheiten – über die politischen Fraktionen hinweg kooperierenden Stadtrat, dem Kulturausschuss und dem einflussreichen Museumsverein zielten beide Protagonisten stets auf diplomatisches Miteinander und auf Synergien. Zweitens von der substanziellen Arbeit Heinrich Dattenbergs (1902 – 1986), dem es als Cladders’ Vorgänger unter anderem gelungen war, an die Idee der legendären Sammlung Kaesbach anzuknüpfen: jener prominenten Sammlung expressionistischer Kunst, die der Kunsthistoriker und vormalige Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie Walter Kaesbach 1928 seiner Heimatstadt Mönchengladbach gestiftet hatte und die 1937 dem Terror der Nazis zum Opfer gefallen war. Drittens durch die Nähe zu Düsseldorf: Die Kunstakademie strahlte als Schule junger Künstler:innen und Wirkungsstätte progressiver Direktoren wie ein energetisches Kraftfeld international weit aus. Viertens von der Situation Mönchengladbachs inmitten der kulturellen Szene des jungen wirtschaftsmächtigen Bundeslands Nordrhein-Westfalen, wo sich seit den späten 1950er Jahren internationale, regionale und lokale künstlerische Manifestationen in den zahlreichen Städten und Kommunen wie in einem komplexen System offener Schaltkreise miteinander verbanden. Fünftens von Cladders’ kongenialen Mitarbeitern Ruth Müller und Peter Terkatz, denen für zahlreiche wertvolle Informationen herzlich gedankt werden soll.