DIE AUSSTELLUNGEN
UND KASSETTENKATALOGE
DES STÄDTISCHEN MUSEUMS
MÖNCHENGLADBACH
1967–1978

Digitales Archivprojekt
initiiert von Susanne Rennert und Susanne Titz

Menü
Play
Pause
00:00
00:00
Schließen

EXHIBITION INBOX, CRÉATION PERMANENTE“. JOHANNES CLADDERS UND DIE 35 KASSETTENKATALOGE DES STÄDTISCHEN MUSEUMS MÖNCHENGLADBACH

Susanne Rennert


Ich folgte einfach dem, was Künstler machten; darin sah ich meinen Part.“1 (Johannes Cladders, 2004)

THE BOX FORMAT AT THE MOMENT ALLOWED THE VARIOUS ARTISTS TO PRESENT VARIOUS OBJECTS THAT THEY FELT REPRESENTED THEIR OEUVRE AT THE TIME.”2 (Lawrence Weiner, 2016)

Es ging um nichts Geringeres als um eine bessere Welt. Es ging um Emanzipation, um Partizipation und um Transparenz“3 (Norbert Frei, 2018

In einer Zeit radikaler gesellschaftspolitischer Umbrüche, in der die Öffnung und Demokratisierung der Institutionen gefordert, das Antiautoritäre zum Schlagwort wurde und Joseph Beuys seinen erweiterten Kunstbegriff entwickelte, begann Johannes Cladders im Städtischen Museum an der Bismarckstraße in enger Kooperation mit den Künstler und Künstlerinnen, eingebunden in ungemein effiziente Netzwerke, einen erweiterten Museumsbegriff zu realisieren. Cladders verstand sich als Koproduzent der Künstler und Künstlerinnen. Als Ausstellungsmacher verfolgte er einen konzeptuellen Ansatz, der sich immer sehr konkret an der Realität des künstlerischen Materials orientierte. Ausgehend von dem – Marcel Duchamp unterstellten, durch die intermediale Fluxus-Bewegung provokativ aufgeladenen – Begriff Antikunst interpretierte er das zeitgemäße Museum als ein Antimuseum“ – nicht negativ konnotiert, sondern als einen Ort permanenter Erneuerung und Transformation. Als Experimentierfeld und als interdisziplinäres Labor, in dem Kunst und Gesellschaft in produktive Dialoge eintreten können. Damit reagierte er auf die veränderten Begriffe, die sich in den 1960er Jahren entwickelten, mit denen sich der Fokus hin zu den Rezipient:innen und deren Erfahrungsraum verschob, zu den dynamischen Prozessen, die sich zwischen Werk und Betrachter:innen ereignen.4

Mit Willem Sandberg (1897 – 1984) und Paul Wember (1913 – 1987) als zentralen Anregern und mit Pontus Hulten (1924 – 2006) und Harald Szeemann (1933 – 2005) als Generationsgenossen zählt Cladders (1924 – 2009) zu jenen visionären risikobereiten Museumsdirektoren im Europa nach 1945, die durch ihre progressive Ausstellungs- und Publikationstätigkeit das Museum konsequent der zeitgenössischen Kunst öffneten und damit emanzipatorische Prozesse in Gang setzten, die langfristig ins 21. Jahrhundert hineinwirken. Nicht nur die Frage, was eine Ausstellung, eine Institution, ein Museum für eine aufgeklärte demokratische Gesellschaft leisten kann, wurde hier neu zur Disposition gestellt, auch das Format Ausstellungskatalog“ wurde – als ein Objekt und komplementäres Medium – neu definiert. 

Der Katalog ist auch das Denkmal der Ausstellung, er ist der Teil, der um die ganze Welt reisen kann, und er ist‘ der einzig bedeutende Teil, der bleiben wird, wenn die Ausstellung zu Ende ist.“5 (Pontus Hulten) 

Aus dem Prototyp eines Objekts, das Cladders im Sommer 1967 gemeinsam mit Joseph Beuys konzipierte und euphemistisch als Kassettenkatalog bezeichnete – eine Schachtel aus Karton im Maß von 21 × 17 cm mit eingelegten Materialien – entwickelte sich eine Serie einzigartiger Kataloge. Diese wurden anstelle der herkömmlichen, linear zu rezipierenden Ausstellungskataloge herausgegeben, konnten die jeweilige Ausstellung ergänzen, erweitern oder auch ein von der Ausstellung unabhängiges Werk darstellen. Damit eröffnete sich den Künstlern ein wichtiger zusätzlicher Manifestationsraum. Dasselbe gilt für den Museumsdirektor selbst, der sich innerhalb dieses Projekts nicht nur als Organisator und Choreograf, sondern auch als Gestalter und Typograf verwirklichte. 

Johannes Cladders als Herausgeber des Editionsprojekts Kassettenkataloge“ betrachten, heißt immer auch, ihn als Künstler zu sehen – als jemanden, der die Seiten von Produktion und Rezeption mühelos zu wechseln imstande war.6 Das verband ihn nicht nur mit Willem Sandberg oder Pontus Hulten, sondern auch mit Galeristen wie Alfred Schmela oder Konrad Fischer, mit denen er ab 1967 eng kooperierte. Cladders schuf in den 1960er Jahren spielerische fluxushafte Objekte, initiierte auch aktionistische Projekte, die auf Publikumsbeteiligung hin angelegt waren.7 Neben dem neuen Realitätsbegriff des französischen Nouveau Réalisme – dem Paul Wember als Museumsdirektor in Krefeld erste institutionelle Aufmerksamkeit verschaffte – war es der konzeptuelle und intermediale Ansatz der internationalen Fluxus-Bewegung, der Claddersʼ Denken und seine Praxis in den formativen Jahren beeinflusste. Die frühe Nähe zu Künstlern wie Arthur Køpcke, Daniel Spoerri, Robert Filliou und George Brecht bedeutete für Cladders intellektuelle Heimat.8 Die Nähe zu Fluxus teilte er zudem mit Joseph Beuys, mit dem er im Sommer 1967 den ersten Kassettenkatalog realisierte.

Die Schachteln der Fluxus-Künstler:innen, von George Maciunas ab 1963 in der Fluxus Edition designt und publiziert,9 stellen ein zentrales Momentum für die Kreierung der Mönchengladbacher Kassettenkataloge dar. Wie viele der Fluxus-Künstler:innen, die im Zwischenbereich von Musik, bildender Kunst, Poesie, Theater und diversen wissenschaftlichen Disziplinen agierten und ab 1962 zunächst im Rheinland mit Aktionen an die Öffentlichkeit traten,10 war Cladders in seiner beruflichen Tätigkeit multidisziplinär orientiert: Als Ausstellungsmacher ein Quereinsteiger hatte er nicht Kunstgeschichte, sondern Germanistik, Anglistik und Philosophie studiert und als Journalist und Kunstkritiker gearbeitet, bevor er 1957 in den Krefelder Museumsdienst als Assistent des progressiven Paul Wember eintrat. 

Im Oktober 1966 schreibt Johannes Cladders, damals noch Wembers Mitarbeiter am Kaiser-Wilhelm-Museum, an George Brecht: Dr. Mr. Brecht: […] I met in Eindhoven Mr. Ricke (a lot of gallerists were there, Mr. Sonnabend, D. Rene, Schmela etc.) and we talked about the planned exhibition of your works, Filliou’s and mine. […] At the Galerie Der Spiegel in Cologne I bought your object in the edition MAT MOT and that of Filliou [Brecht, Universal Machine; Filliou, Je disais à Marianne, Anm. d. A.]. Ample Food for Stupid Thought’ by Filliou I have, too. Besides, in the exhibition Object Poems at Higgins’ in April or so I had a few of my works. Did you see it?”11 Cladders verfolgte den Plan, als Künstler gemeinsam mit Brecht und Filliou in der Galerie von Rolf Ricke auszustellen, der damals im Übrigen auch die Sammlung Etzold als Berater entscheidend mit aufbaute. Zwischen Cladders und Brecht, der mit Filliou im südfranzösischen Villefranche-sur-Mer die interdisziplinäre Plattform La Cédille qui sourit als internationales Zentrum permanenter Kreation“ führte, entwickelte sich im Anschluss eine angeregte Korrespondenz; das Ausstellungsvorhaben wurde hingegen nicht realisiert. Einige Monate später, im März 1967, kündigt Cladders Brecht an, er werde in den nächsten Monaten Direktor des Städtischen Museums Mönchengladbach: I would therefore be glad to talk with you about an exhibition there.“12 Die Ausstellung La Cedille qui sourit, GEORGE BRECHTROBERT FILLIOU. Eine Ausstellung mit Arbeiten, Dokumenten, Geschehnissen wurde im Sommer 1969 realisiert. 

Claddersʼ eigene künstlerische Praxis trat in den Jahren seiner Mönchengladbacher Tätigkeit öffentlich fast völlig in den Hintergrund. Für das komplexe Verständnis dieses anti-institutionellen Institutionellen, den eine besondere Affinität zur Konzeptkunst auszeichnete, ist sie jedoch von substanzieller Bedeutung.13

La Cédille qui sourit, GEORGE BRECHT – ROBERT FILLIOU, Museum Mönchengladbach 1969, v.l.n.r.: N.N., Rudolf Wlaschek, Johannes Cladders, George Brecht, Isi Fiszman, Foto: Albert Weber, Archiv Museum Abteiberg

La Cédille qui sourit, GEORGE BRECHT – ROBERT FILLIOU. Eine Ausstellung mit Arbeiten, Dokumenten, Geschehnissen, Ausstellungsansicht, Museum Mönchengladbach 1969, v.r.n.l.: Isi Fiszman, George Brecht, Johannes Cladders, Rudolf Wlaschek, unbekannt, Foto: Albert Weber, Archiv Museum Abteiberg

La Cédille qui sourit, GEORGE BRECHT – ROBERT FILLIOU, Museum Mönchengladbach 1969, v.l.n.r.: N.N., Rudolf Wlaschek, Johannes Cladders, George Brecht, Isi Fiszman, Foto: Albert Weber, Archiv Museum Abteiberg

Vor dem Hintergrund von insgesamt 86 Einzel- und Gruppenausstellungen sowie Aktionen dokumentieren die 35 Kassettenkataloge nur einen Teil des Ausstellungsgeschehens an der Bismarckstraße. Grundsätzlich wurden ausgewählte Sonderausstellungen von einem Kassettenkatalog begleitet.14 29 Schachteln erschienen anlässlich von Einzelpräsentationen, bei denen es sich vor allem in den ersten Jahren häufig auch um die erste institutionelle Einzelausstellung der jungen bzw. nicht etablierten Künstler handelte. 

Interessant ist, wie deutlich sich in der Mönchengladbacher Serie die Ausstellungsprogrammatik der Düsseldorfer Galerie Konrad Fischer und der 1966 von Anny De Decker und Bernd Lohaus in Antwerpen initiierten Wide White Space Gallery widerspiegelt (Andre, Becher, Beuys, Broodthaers, Brouwn, Buren, Darboven, Long, Palermo, Panamarenko, Richter, Rückriem, Ruthenbeck, Weiner). Mit beiden Galerien, die im internationalen Kontext zu den ersten zählten, die auf die neuen Forderungen nach einer konzeptuellen und ortsspezifischen Kunst und deren veränderte Produktionsbedingungen reagierten, ergaben sich kontinuierlich effektive Synergien.15

Besonders Fischers initiative Rolle für die Planung und Organisation etlicher Mönchengladbacher Ausstellungen manifestiert sich an vielen Stellen in der Archivkorrespondenz. So legt der Galerist – bis 1967 selbst als Maler Konrad Lueg künstlerisch tätig –, der im September 1967 mit Carl Andres raumfüllender Bodeninstallation 5 x 20 Altstadt Rectangle den Düsseldorfer Ausstellungsraum eröffnet hatte, im Juli 1968 einem Brief an den Künstler die Grundrisse des Mönchengladbacher Museums bei und schreibt:

Dear Carl! How are you? I hope Aspen is O.K. and the drinks there, too. I have been at the Museum of Mönchengladbach and I have spoken to Dr. Cladders (Director). […] Dr. Cladders is at the Museum since last year and he did the following shows: 1. Beuys 2. Heerich (Dwan show in Okt.) 3. Posters 4. Collection of the Museum 5. Carl Andre […] Cladders had much success with his shows, specially Beuys and Heerich. Ströher (collector) bought the whole Beuys show. I think this small museum is becoming more and more important and now well known in Europe and famous for its extraordinary catalogs. So far. I have spoken with Cladders and can say you this: The Museum will pay your trip from N.Y. to Mönchengladbach and your stay there. All kinds of stuff (stones, wood, poryform except metal you can get from the city of Mönchengladbach, also transports from Düsseldorf to Mönchengladbach or from Bergeyck to M. or so.) I think, may be, it would be good to show some earlier pieces, which you could rebuild there. Perhaps it should be a small retrospective show of yours. Cladders will make a catalog for your show. The catalogs are always in a box, like this: […] I also send you the plan of the rooms. Please write me soon what you nearly want to do. Greetings from Dorothee and have a good time in Aspen!“16

Carl Andres Antwort am 20. Juli an den Freund in Düsseldorf: 

DEAR KONRAD, THANKS FOR YOUR LETTER & PLANS FOR MÖNCHENGLADBACH. I MET DR. CLADDERS IN KASSEL & REMEMBER BEING THROUGH HIS TOWN. I WANT TO DO THE SHOW VERY MUCH. ALSOHOPE TO HAVESHOW AT YOUR GALLERY ANDPIECE IN PROSPECT 68. […] DID YOU SEE HANNE DARBOVEN’S NEW WORK? I THOUGHT IT WAS TERRIFIC. ARE YOU GOING TO GIVE HERSHOW? YOU SHOULD. […]“17

Sechs Kassettenkataloge gab Cladders anlässlich von thematischen Ausstellungen heraus. Darunter die drei BELEGE , die den Sammlungsbestand aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und seine spektakulären Neuerwerbungen dokumentieren, sowie eine Dokumentation des umfangreichen Projekts Kunst am Bau“ (BELEG 1968; BELEG II, 1972; KUNST AM BAU, 1976 und RÄUME. BELEG III, 1976). RATIONALE SPEKULATIONEN (1972) und PROGRAMM ZUFALL SYSTEM. Ein neuer Zweig am alten Konzept der Sammlung Etzold (1973) sind den erweiterten Kontexten der Sammlung Etzold gewidmet. Die Sammlung Etzold mit ihrem Schwerpunkt auf konstruktivistischen, rational-konstruktiven und konkreten Positionen kam 1970 als Dauerleihgabe nach Mönchengladbach. Aufgrund ihrer großen Materialumfänge, die durch mehrere Satelliten wie eine exquisite Auswahl zur Grafik der Pop-Art noch ergänzt wurde, konnte sie im alten Städtischen Museum immer nur in Teilaspekten vorgestellt werden. Sie wurde von Cladders und Stadtdirektor/​Kulturdezernent Busso Diekamp von Beginn an als strategisches, auch politisch äußerst wirksames Argument für einen Museumsneubau genutzt.18

BEUYS 1967

Der Katalog besteht aus einer flachen braunen Schachtel. Sie enthält ein Stück Filz, zwei Faltblätter und zwei leporello-gefalzte, 2,3 m lange Papierstreifen, mit Texten und Abbildungen bedruckt. Auch er ist numeriert und die Auflage begrenzt. In absehbarer Zeit wird er eine Rarität sein.“19

Den ersten Kassettenkatalog, aus dem sich in der Folge ein flexibles Format mit Konstanten entwickelte, entwarf Cladders im Sommer 1967 gemeinsam mit Joseph Beuys. Katalog und Ausstellung mussten kurzfristig realisiert werden. Cladders trat zum 1. Juni 1967 sein Amt als neuer Museumsdirektor in Mönchengladbach an, verfolgte aber zunächst den Plan, im September mit einer Ausstellung des amerikanischen Pop-Art-Künstlers Andy Warhol zu eröffnen.20 Es ist ein Glücksfall für die Kunstgeschichte, dass damals weder Pontus Hulten – der die Warhol-Retrospektive am Stockholmer Moderna Museet vorbereitete – noch Warhols Galeristin Ileana Sonnabend ermutigend reagierten. Stattdessen vermittelte Beuys’ Galerist Alfred Schmela die erste Museumsretrospektive des Düsseldorfer Akademieprofessors und Bildhauers, der exakt zu dieser Zeit mit der Gründung der Deutschen Studentenpartei (23. Juni 1967) seine Arbeit unter erheblicher medialer Aufmerksamkeit um eine konkrete politische Dimension erweitert hatte. 

Nachdem ich mehrmals mit Beuys zusammen war, bin ich ganz und gar der Meinung, daß er fast sogar als einziger das Besondere dieser Zeit ausspricht“,21 hielt der Darmstädter Sammler Karl Ströher fest. Noch während der Laufzeit der Ausstellung verhandelte Ströher mit dem Künstler über einen En-bloc-Ankauf nahezu aller dort präsentierten Skulpturen, Objekte, Aktionsrelikte und Zeichnungen und setzte dies wenig später in einer aufsehenerregenden und spontanen Tat“22 (Hans Strelow) auch um.23 Heute bildet das Mönchengladbacher Ausstellungsgut die Basis des berühmten Block Beuys im Hessischen Landesmuseum Darmstadt. 

Der Eröffnungstermin in Mönchengladbach am Abend des 13. September fiel strategisch wirkungsvoll mit dem ersten Tag des ersten Kölner Kunstmarkts zusammen. Dieses Großereignis brachte internationales Publikum und die Presse nicht nur nach Köln, sondern auch in die nahe niederrheinische Provinz. Die Amtlichen Mönchengladbacher Nachrichten meldeten: Zur Eröffnung der Ausstellung von Professor Joseph Beuys am 13. September fanden nahezu 600 Besucher den Weg ins Museum. Der weitaus größere Teil kam nicht aus Mönchengladbach. Es handelt sich um Kunstfreunde, Sammler, Kritiker, Galeristen aus Deutschland und dem benachbarten Ausland. […] Das Gebäude an der Bismarckstraße war diesem Andrang kaum gewachsen. Viele Interessierte warteten geduldig auf der Straße und im Garten. Sie konnten nur schubweise in die Ausstellung gelassen werden. […] Noch bevor die Ausstellung von Professor Joseph Beuys im Städtischen Museum eröffnet war, lagen schon 60 Vorbestellungen für den Katalog vor. Bereits am Tag des Eröffnungstages war der Katalog restlos vergriffen. Am nächsten Tag boten Händler auf dem in Köln stattfindenden Kunstmarkt die wenigen Exemplare, die sie erhalten hatten, zum Preis zwischen 20 und 25 DM an. Obwohl der Katalog an vielen Ständen vorhanden war, gaben ihn die meisten Händler überhaupt nicht ab.“24 Die Westdeutsche Zeitung veröffentlichte die Meldung unter der Schlagzeile Schwarzmarktpreise für den Ausstellungs-Katalog.“25

Mit dem ersten Kassettenkatalog legte Cladders ein formales Grundkonzept fest, zu dem neben dem festen Maß von 21 × 17 cm auch die bis 1978 konstant verwendete Schrifttype zählt: die kompakte Akzidenz Grotesk Berthold“, eine funktionale serifenlose Schrift, die wie das Museumsgebäude an der Bismarckstraße aus dem späten 19. Jahrhundert stammt und zu den Meilensteinen moderner Schriftgestaltung zählt. Mit Blick auf das Format der Schachtel fällt auf, dass Heinrich Dattenberg, Cladders’ Vorgänger als Direktor des Museums in Mönchengladbach, fünf Bestandskataloge im fast identischen Format herausgegeben hatte (21 × 15 cm).26 Möglich, dass hier eine spezifische Kontinuität hergestellt werden sollte. Bei Betrachtung von Dattenbergs schmalen bescheidenen Bänden, die äußerst informative Texte, aber kaum Abbildungen enthalten, wird deutlich, welch radikale Neudefinition von Katalog sich hier manifestierte und wie sich der Fokus nun von der wissenschaftlichen Interpretation als einer Information aus zweiter Hand direkt auf die Selbstaussage der Künstler:innen und deren (auch physisch erfahrbare Arbeit) verschob.


Interview Cladders – Obrist 

Wie äußerte sich Cladders selbst? Im Hinblick auf die Entstehung des Formats Kassettenkatalog ist das Interview aufschlussreich, das Hans Ulrich Obrist 1999 mit Johannes Cladders in Krefeld führte.27

Obrist: Wie ist die Sammlung der Boxen entstanden? Denn die ist eigentlich sehr konsequent von der allerersten Ausstellung an mit der ersten Beuys-Box fortgezogen worden. Ist sie von Ihnen selbst entwickelt worden oder im Dialog mit den Künstlern?

Cladders: Sowohl als auch. Das war aus der Not eine Tugend gemacht. Die finanzielle Situation war nicht sehr gut. Ich hatte nur ein ganz kleines Budget, dennoch wollte ich nicht nur dünne Faltblättchen machen. Ich wollte etwas für den Bücherschrank haben, das heißt etwas, das Volumen besaß. Und da habe ich mir gedacht, da musst du eine Box nehmen, die hat ein Volumen, da kannst du reinlegen, was die Künstler dir liefern und was du dir selber an Druckmaterial erlauben kannst finanziell. Und mit dieser Idee bin ich zu Beuys gezogen. Und habe gesagt, ich habe einen Sponsor, einen Drucker in Mönchengladbach, der druckt mir einen Text und Abbildungen, aber nur in einem bestimmten Umfang und mehr nicht. Und das ist zu wenig und zu dünn. Was kannst du noch dazu beitragen? Da sagte er, ich mache darin einen Filz. Damit hatten wir die Box schon ziemlich gefüllt. […] Dann haben wir zusammen überlegt, welches Format die Box haben soll. 

Obrist: Die Entscheidung war mit Beuys damals gefallen?

Cladders: Er war damit einverstanden, mit meiner Idee, eine Box zu machen. Und die Form dieser Box, das heißt die Außenmaße, die habe ich dann mit ihm besprochen. Wir wollten kein genaues DIN-Format, sondern wollten da etwas herausfallen. Die Maße, die die Boxen dann im Laufe der Ausstellungen immer beibehalten haben, sind damals bei Beuys festgelegt worden. Die habe ich immer beibehalten. Diese Maße stammen von Beuys. Es drehte sich auch um die Auflage. Das Haus war sehr klein. Ich hatte überhaupt keinen Raum, irgendwelche Restauflagen unterzubringen, und ich wusste aus meiner Krefelder Erfahrung, was bei solchen unmittelbaren Gegenwartsausstellungen während der Ausstellungsdauer verkauft werden konnte. 

Obrist: Interessanterweise sind ja die Auflagen immer ziemlich gleich geblieben. Man hat auf einmal gedacht, es gibt viel mehr Leute, die sich dafür interessieren. Aber wenn man einmal die Zahlen anguckt, was Museen real verkaufen, dann sind es immer noch zwischen 500 und 1000 – wenn es ganz gut läuft. Die Zahlen sind gleich geblieben.

Cladders: Ganz genau. Das war auch für mich so. Ich hatte die Erfahrung von Krefeld, dass während einer Ausstellung im Haus Lange – bei Ausstellungen wie Yves Klein, Tinguely usw. – etwa 200 Kataloge verkauft wurden. Die Auflagen waren aber höher. Und da es sich meist doch um sehr interessante Künstler handelte, die erst später von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, verkauften sich die Kataloge im Laufe der Jahre. Da ich aber keinen Lagerraum hatte, musste ich von der Idee leben, sie müssten sich während der Ausstellung verkaufen oder bestenfalls in einem Jahr oder in einem halben Jahr. Deswegen habe ich die Auflagen immer kleiner gehalten. Ich weiß, dass ich mit Beuys darüber sprach, wir sollten 300 machen. Und Beuys sagte nein, das passt mir überhaupt nicht, das ist so eine komische Zahl. 300, das ist so eine glatte Zahl. Sagen wir 330. 333 wäre zu perfekt. Und ich habe diese Art von krummer Zahl immer beibehalten, auch wenn ich höhere Auflagen gemacht habe. Ich glaube, bei Carl Andre war es die größte Auflage mit 660.“


Wember, Sandberg, Fluxus, Duchamp

Paul Wember schuf mit dem Museum Haus Lange ab 1955 den Prototyp eines Museums der Gegenwartskunst nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Dass Wembers kuratorisches Wirken – abgesehen von seinem eher auktorialen Führungsstil – wie ein vorbildhaftes Modell für Cladders’ eigene Museumsarbeit in Mönchengladbach funktionierte, betonte er unter anderem in den Interviews mit Walter Grasskamp und Hans Ulrich Obrist.28 Mit Willem Sandberg als einem Pionier zeitgenössischer Museums- und Editionspraxis war Cladders ebenfalls über Wember verbunden. Nicht nur das am Bauhaus geschulte freie typografische Konzept Sandbergs, das Cladders selbst gern erwähnte, auch die wegweisenden Ausstellungskataloge für Museum Haus Lange, die Paul und Tomma Wember in Teamarbeit konzipierten, sollten hier in die Betrachtung der Inspirationsquellen für die Kassettenkataloge einbezogen werden. Zu Tomma Wember, deren bedeutender Part erst vor einigen Jahren öffentlich bekannt wurde, schreibt Sabine Röder: Die Ehefrau des Museumsdirektors ist selbst künstlerisch tätig. In ihrem Werk spielt die Arbeit mit Sprache und Typografie eine wichtige Rolle, und so tragen viele der druckgrafischen Erzeugnisse des Museums ihre Handschrift. Schon in frühen Katalogen, etwa dem der Poelzig-Ausstellung 1951 erscheint eine moderne typografische Gestaltung, die an die Entwürfe des Bauhauses erinnert: eine horizontal ausgerichtete kompakte Schrift ohne Serifen in ungewöhnlich breit angelegtem Satz. Zur Miró-Ausstellung 1954 ändert sich die gesamte Präsentationsform. Anstelle eines gebundenen Katalogs gibt es eine offene Mappe, in die diverse Blätter eingelegt sind. […] Es entsteht so ein neues flexibles Konzept künstlerischer Gestaltung, das Wember bis in die 1960er Jahre beibehält und das dann von einer ähnlich innovativen Form der Ringbuch-Kataloge abgelöst wird.“29

Viele der außergewöhnlichen Kataloge, die Paul und Tomma Wember für die Ausstellungen im Museum Haus Lange entwarfen, erlangten Berühmtheit — wie später die Mönchengladbacher Kassettenkataloge. So die Katalogmappe zur Ausstellung Yves Klein 1961, in die eine blaue, eine pinke und eine – mit Blattgold versehene – goldene Farbtafel eingelegt ist,30 oder der Katalog zur Ausstellung Arman 1965, der – bedruckt mit der Schwarz-Weiß-Abbildung eines Poubelle – zusammengesteckt und als eine Art flacher dreidimensionaler Abfalleimer aufgestellt werden kann.31

Die Mönchengladbacher Kassettenkataloge gewinnen in ihrer spielerischen Ereignishaftigkeit an kontextuellem Raum, wenn man sich den inflationären Gebrauch von Schachteln“32 im Zusammenhang mit dem Editionsprojekt Fluxus und den Kontext der Zeit vergegenwärtigt: Ausgehend von den verschiedenen Reflexionen über kapitalistische Verwertungszusammenhänge in den frühen 1960-er Jahren wurden alternative Präsentations- und Distributionsweisen erschlossen. Zahlreiche Künstler verwendeten in dieser Zeit als Format Schachteln und Koffer, die als Objekte nicht mehr allein die visuelle Wahrnehmung adressieren, sondern geöffnet werden müssen, um die ganze Bandbreite unterschiedlicher Erfahrungsangebote zu realisieren: Bilder und Piktogramme, Sprachspiele, Anweisungen zu kommunikativen Aktionen und Praktiken, aber auch Instruktionen, die Sinnangebote gezielt aussetzen. Die Herausgabe von Editionen und Multiples, die den Kernstock von George Maciunas’ Fluxshop bilden, ist als ein alternatives Distributionssystem zu den Institutionen des Kunstmarktes konzipiert und folgt dem Prinzip eines Versandhauses.“33

Die Schachteln der Fluxus-Künstler:innen, von denen Cladders selbst einige besaß, dürften als zentrale Inspirationsquelle für Kassettenkataloge gelten. Hier wird das Konzept vom künstlerischen Werk als einem komplexen, offen angelegten Spiel in unzähligen Varianten ausgeführt und zur Disposition gestellt. Der zentrale Impuls der Fluxus-Bewegung, die Betrachter:innen zu animieren, sich nicht länger als passive Rezipient:innen zu begreifen, sondern als differenzierte Produzent:innen selbstverantworteter schöpferischer Aktivität zu erleben, liegt auch dem Mönchengladbacher Editionsprojekt zugrunde. Mit den Boxen der Fluxus Edition, die 1963 mit George Brechts Water Yam initiiert wurde, nahm Maciunas wiederum auf Marcel Duchamp Bezug, der mit der Boîte verte (1934) und der Boîte-en-valise (1938/1941) die Urform der Künstlerbox konzipiert hatte. Pontus Hulten über die Boîte Verte: Diese Schachtel ist etwas Geniales, vollkommen Neues. Nicht nur, was drinnen ist, sondern auch, wie das präsentiert wird, mit dieser Schönheit in allen Kleinigkeiten. Es war ja ein direkter Eingriff in das Buch als solches. Das war absolut bedeutend.“34

1965 hatte Johannes Cladders im Museum Haus Lange die Gelegenheit, sich mit Duchamps legendärer Boîte-en-valise auseinanderzusetzen. Die Große Schachtel, mit der Duchamp sein gesamtes Werk in Form eines portablen Œuvrekatalogs zusammenfasst, zählte damals zu den Exponaten der Ausstellung Marcel Duchamp. Ready-mades, Objekte, Collagen, Zeichnungen, Manuskripte, Layouts, Dokumente.35 Diese bedeutende Ausstellung, welche die konzeptuellen Praktiken Duchamps als Ressource für die Kunst der 1960er Jahre verfügbar machte, wurde in Krefeld – nach Bern, Den Haag und Eindhoven – als einziger Station in der Bundesrepublik Deutschland präsentiert. 1969 erwarb Cladders ein Exemplar der Großen Schachtel für die Sammlung des Museums Mönchengladbach, 1977 folgte der Ankauf eines Exemplars der Grünen Schachtel.36

Produktionsprozesse

Bei den Kassettenkatalogen handelt es sich um hybride Objekte, die zwischen den Kategorien Ausstellungskatalog, Multiple und Künstlerbuch stehen. Innerhalb des äußerst diversen Spektrums, das sich in den 1960er und 1970er Jahren an multiplizierter Kunst eröffnete und ausdifferenzierte (Multiples, Auflagenobjekte, Künstlerbücher und ‑editionen, Grafik etc.) und 1968 auf der Kölner Ausstellung ars multiplicata erstmals überblicksmäßig dargestellt wurde, bilden sie eine ganz eigene Gattung.37

Zur Systematik seiner Auswahl der Künstler für das Katalogprojekt — mit Hanne Darboven als einziger Künstlerin (!) — hat Cladders sich nicht explizit geäußert; es war die Programmatik des Antimuseums“ und des Neuen, die sich hier manifestierte: Ich habe mich immer an eine Gegenwart gehalten – ganz unmittelbar – die ich für die Entwicklung von Kunst relevant hielt …, versuchte immer zu sehen, wo waren da innovative steps, wo kam eine neue Idee auf, die auch zur Definition von Kosuth’s art defines art‘ die Kunst neu definiert. Daraus ist mein Programm entstanden.“38

Die große Resonanz auf das neuartige Format, die bereits mit der ersten Ausgabe Beuys einsetzte und häufig prompt mit einer exponentiellen Wertsteigerung einherging,39 bestärkte ihn offenbar in seinem Willen, das Projekt Kassettenkatalog“ als ein regelrechtes – mit Daniel Spoerris Edition MAT, Bernhard Hökes edition et oder George Maciunasʼ Fluxus Edition vergleichbares – Editionsvorhaben fortzuführen. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist der Brief, den Cladders im Januar 1970 an Hans Hollein schreibt:

Sehr geehrter Herr Professor Hollein, […] Die bisher erschienenen Kataloge des Museums sind Ihnen bekannt. Sie sollen für 1970 in gleicher Form festgesetzt werden, da sie sich ihrer gesamten Anlage nach äußerst bewährt haben und weltweites Interesse in den Kreisen fanden, auf deren kritisches Urteil das Museum Wert legt, und die in hohem Maße auch meinungsbildend sind. Ihr Katalog wird also ebenfalls als Kassette erscheinen, wobei über die Gestaltung des Inhalts noch ausführlich zu sprechen wäre. Für die Ausstellung steht Ihnen das ganze Haus zur Verfügung. Es wäre mir angenehm, wenn Sie möglichst bald ein genaues Konzept vorlegen würden, damit wir rechtzeitig kalkulieren und mit den Vorbereitungen beginnen können.“40

Was lässt sich konkret zu den koproduktiven Produktionsprozessen feststellen? Was lässt sich sagen zum Making Of“ der Kassettenkataloge? Auch wenn die meisten Produktionen im Einzelnen nicht mehr nachvollzogen werden können, da vieles mündlich kommuniziert wurde, lassen sich hier prinzipiell drei Kategorien unterscheiden: In der Regel entwickelte Cladders das Konzept gemeinsam mit den Künstlern, die Ausführung erfolgte dann häufig nicht mehr in detaillierter Absprache.41 Einige Schachteln wurden durch die Künstler allein konzipiert, wie unten anhand von Lawrence Weiner, Stanley Brouwn und Giuilo Paolini deutlich wird.42 Bei einigen Kassettenkatalogen handelt es sich schließlich um Claddersʼ eigene Entwürfe. Das bezieht sich nicht nur auf die Gruppenausstellungen und die Serie der drei Belege – hier ist das bürokratische“ Design der Schachteln in Anlehnung an Heftdeckel, Registraturmappe und Aktendeckel angelehnt –, sondern beispielsweise auch auf die extravagante Box aus durchsichtigem tiefgeformten Kunststoff, die 1969 anlässlich der Ausstellung von Manzoni produziert wurde.43

Nachdem das Museum zunächst mit wechselnden lokalen Druckereien zusammenarbeitete, begann 1969 die kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Mönchengladbacher Druckerei Heinrich Schlechtriem, die die gesamte Fertigung übernahm. Hier wurden die Schachteln in der Regel auch bestückt.

Aus dem Archiv: Weiner, Brouwn, Paolini 

Dear Dr. J. Cladders
I trust your holiday was successful
Enclosed please find the general idea of the poster and
box we had spoken of
With best regards
I remain
Lawrence Weiner”
44

Bei Lawrence Weiners Zeichnung – eine Filzstiftskizze auf Luftpostpapier – handelt es sich um den einzigen konkreten Entwurf eines Kassettenkatalogs, der sich bislang in den Akten im Archiv des Museums Abteiberg (MAM) auffinden ließ. Die Skizze mit dem Kommentar GENERAL IDEA OF THE BOX“ und Weiners acht mit Schreibmaschine getippten Texten wurde nahezu 1:1 umgesetzt. Sie ging Anfang August 1973 im Museum ein; wenige Tage später antwortete Cladders: I agree in the general idea of the poster and the box“45 und schrieb weiter, dass er Walther König in Köln zu Weiners Buch A PRIMER“ kontaktiert habe, das in die Schachtel eingelegt werden solle. Er werde sich, so Cladders, auch um die anderen Publikationen kümmern, die dann in jeweils dreifacher Ausführung auf Tischen in der Ausstellung ausliegen würden. Am selben Tag wandte er sich in dieser Sache an Art & Project in Amsterdam. Weiner an Cladders in einem Brief, der am 20. August im Museum eintrifft:

Dear Dr. J. Cladders
Am pleased that the general idea of the poster and
box is OK
Can only hope that obtaining A PRIMER” resolves
itself […]“
46

Stanley Brouwn zählte ebenfalls zu jenen Künstlern, die das gesamte Konzept vorab entworfen haben. In schwungvoller Schreibschrift, die in bemerkenswertem Kontrast zum Minimalismus seiner typografischen Konzeptionen steht, schreibt Brouwn im Sommer 1970 aus Amsterdam nach Mönchengladbach:

Dear Mr Cladders
I thank you for your letter.
I will be in Mönchengladbach on Tuesday 18 August.
My train will arrive at 9.35. […]
I will take with me a lay-out for the poster; for the book and for
the little card we will print for in the Museum
O.K. I see
you on 18. August
all the best
Stanley“
47

Im Falle Giulio Paolinis war es dessen Kölner Galerist Paul Maenz, der die Kommunikation mit dem Museum übernahm und Johannes Cladders die ausgesprochen konkreten Anweisungen des Künstlers übermittelte:

Kassette

Sämtliche Fotos werden übergeben. Paolini wünscht sie faksimiliert in die Box einzulegen. Die Box soll so flach wie möglich sein und aus möglichst starkem, weißem Karton bestehen. In die Innenseiten der Deckel wird je eine Abbildung eingedruckt (wie auf Entwurf angegeben). Alle weiteren Einzelheiten durch P. Maenz (z. B. Text Dr. Cladders, Zusammenstellung usw.). Marconi wünscht evtl. 150 Exemplare zu übernehmen, muß aber über die Kosten unterrichtet werden.“48


Exhibition in a Box – Beispiele 

Jeder Kassettenkatalog ist ein Katalysator für die Kommunikation von Ideen, ein Event“ im George Brecht’schen Sinne, das sich hier über die Fotografien von Tobias Hohn & Stanton Taylor vermittelt und entfaltet. Bei jedem erneuten Betrachten und Auslegen des Materials eröffnen sich potenziell weitere Ideen, Bezüge und Querverbindungen. Im vorliegenden Publikationsprojekt stehen die 35 Kassettenkataloge, die hier erstmals in ihrer materiellen und inhaltlichen Vielfalt dokumentiert werden, für sich. Unabhängig von der Ausstellung, die den Anlass für ihre Produktion gab. Ihre vielfältigen Beziehungen werden im Folgenden nur mehr ausschnitthaft am Beispiel einiger künstlerischer Positionen veranschaulicht. 

Cher Monsieur Cladders, you will find enclosed the second text for our little book’ for the show in Mönchengladbach.“49 (Daniel Buren, 1970)

Mit Daniel Buren und Marcel Broodthaers als zwei Künstlern, die in ihrer Arbeit den Museums- und Institutionsbegriff zentral thematisierten, stand Johannes Cladders in besonders engem theoretischen Austausch. Buren war der einzige Künstler, der zweimal die Gelegenheit erhielt, im Museum an der Bismarckstraße seine Arbeit zu präsentieren (1971 und 1975). Er nutzte das Format Kassettenkatalog als theoretischen Manifestationsraum zur Darstellung seiner soziologischen Untersuchungen der komplexen Beziehungen von Kunst und Öffentlichkeit und zur Publikation seiner Rahmentheorie“.

Marcel Broodthaers konzipierte vier ineinander verschachtelte Schachteln, die sich im Ablauf der Zeit wie ein Film erschließen. Der performative Charakter der Arbeit verweist auf das Thema seiner Ausstellung: Film als Objekt – Objekt als Film. 

Panamarenko schuf in der Kassette eine abstrahierte minimalistische Fassung seines ausgestellten Flugzeugs, mit einer profanen Paketschnur in der Länge der Spannweite des Flugzeugs, aufgerollt und mit Klebestreifen an Deckel und Boden der Schachtel befestigt. 

James Lee Byars’ Ausstellung lässt sich am besten als ephemeres Gesamtkunstwerk und als ein vom Künstler initiiertes Ereignis im Hier und Jetzt fassen. Die universale Dimension seines Ansatzes, der die Suche nach Erleuchtung, Bewusstseinserweiterung und intellektueller Teilhabe verbindet, manifestiert sich auch im Kassettenkatalog. Hier wurde eine hohe goldfarbene Schachtel mit einem zusammengeknüllten Bogen schwarzen Seidenpapiers gefüllt, darin verborgen der goldfarbene Aufdruck TH FI TO IN PH“ (THe FIrst TOtally INterrogative PHilosophy). 

Reiner Ruthenbeck ließ Schallplatten mit dem schrillen Ton von Luftschutzsirenen pressen und fotografierte solche Sirenen auf Hausdächern in serieller Abfolge, wie sie ihm auf den regelmäßigen Autofahrten von Meerbusch nach Krefeld aufgefallen waren. In einem Gespräch erinnert der Künstler an die Objekthaftigkeit der Sirenen, die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg wachrufen.50 Der Lärm der Schallplatte stand im denkbar größten Kontrast zur Ausstellung selbst, die von etlichen Vertreter:innen der Presse und von Museumsdirektor Cladders als Demonstration der Stille“ beschrieben wurde.51

Der Korrespondent der Westdeutschen Zeitung berichtet über Hanne Darbovens Ausstellung mit 6 Filmprojektoren nach 6 Büchern über 1968: In allen Räumen des Museums surrten die Projektoren und warfen Zahlen, Chiffren und quadratische Signaturen aus. Man hätte links und rechts, vorne und hinten zugleich blicken müssen, mit Hanne Darboven ganz in Zahlen zu leben, konstruktiv, wert- und zweckfrei versteht sich.“52 Darboven, die einzige Künstlerin, die in den Jahren 1967 bis 1978 in einer Einzelpräsentation vorgestellt wurde, veranschaulichte im Kassettenkatalog die Systematik der ihren 6 Filmen zugrunde liegenden 6 Bücher anhand minimalistischer Index-Zeichnungen. Der ebenfalls in die Schachtel eingelegte karierte Notizblock, der die Betrachter nach dem Do it yourself“-Prinzip auffordert, selbst tätig zu werden, scheint dagegen eher auf Cladders’ Initiative zurückgegangen zu sein.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Cladders’ Eingriffe offenbar nicht immer in allen Aspekten im Sinne der Künstler waren. So gab Carl Andre 2016 auf meine Frage Which meaning had the box catalog for you back then, which meaning has it today?“ lakonisch zur Antwort: NONE“.53 Dass Cladders an der Produktion von Andres Kassettenkatalog besonders intensiv beteiligt war, geht aus der Korrespondenz im Archiv des Museums Abteiberg hervor. Den Kontakt zu der Firma, welche die Deckel aus transparentem Kunststoff und die Edition der Tischläufer“ produzierte, vermittelten die Inhaber des Mönchengladbacher Textilhandels Gebr. Heinemann, die im Museumsverein sehr aktiv waren. Die textile Materialität des weißen Tischläufers“ stand in einem interessanten Gegensatz zu Andres Bodenplastik 35 Timber Row, die im Entrée des Museums auf dem bunten Ornament der historischen Steinfliesen lag: ein sieben Meter langer Steg von 35 an den Längsseiten aneinandergelegten rohen Holzbalken. Unter der Überschrift Stolper-Kunst. Museum provoziert und findet Beachtung“ berichtete die Westdeutsche Zeitung: Die Besucher der Andre-Vernissage […] stolperten schon beim Betreten des Hauses in der Bismarckstraße. Ausgerechnet zur Eröffnung der neuen Ausstellung […] war der Fußboden defekt. Nur über einen kastenartigen Holzsteg kam man ins Haus. In Wirklichkeit stand man in diesem Augenblick schon mit beiden Beinen im künstlerischen Geschehen. […] Die Stahlplatten, die in allen Ausstellungsräumen wie ein zweites brutales Parkett aneinandergefügt den Boden bedecken, zeigen die natürlichen Spuren der Hitzeeinwirkung. Ein Andre-Bewunderer meinte dazu sachverständig: Die passen nicht auf das helle Holzparkett. Sie müßten im Luxusgemach einer Diva auf weißem Velours liegen, da würden sie noch krasser wirken.‘“54

Bernd und Hilla Bechers Ausstellung ist wegen des Kassettenkatalogs berühmt geworden, der 10 originale Silbergelatineabzüge der Künstler enthält. Sie war Teil einer Ausstellungstournee, die – von der Neuen Sammlung in München organisiert – zwischen 1967 und 1969 an Museen und Werkkunstschulen präsentiert wurde, wo man für die Praxis ausbildete. Das Ausstellungsmaterial reiste als weitgehend festgelegtes Display von der Werkkunstschule Wuppertal nach Mönchengladbach und wurde im Anschluss in der Werkkunstschule Kassel gezeigt (ab Januar 1969). Cladders, der die Ausstellung bei seinem Kollegen Jean Leering in Eindhoven gesehen hatte und wie dieser als einer der ersten Institutionellen erkannte, dass es sich hier um konzeptuelle Fotografie handelte, verfolgte von Beginn an den Plan, zusätzlich zum Münchner Ausstellungskatalog einen Kassettenkatalog zu produzieren. Schon in seinem ersten Brief an Hilla Becher vom 25. April 1968, in dem ein geeigneter Ausstellungstermin im Zentrum steht, präzisierte Cladders seine Gedanken: Ich bin tatsächlich sehr daran interessiert, die Industriebauten-Ausstellung im Spätsommer durchzuführen. […] In diesem Zusammenhang auch eine Überlegung zum Katalog. Sie kennen meine Kassetten-Kataloge. Wenn es geht, möchte ich auch diesmal dabei bleiben. Meine Auflagen sind ja nie sehr hoch. Ich habe deshalb auch schon die Überlegung angestellt, ob man in die Kassette nicht Originalfotos einlegen kann. Ob das technisch und kostenmäßig realisierbar ist? Gibt es nicht verhältnismäßig einfache und preisgünstige Abzugsverfahren? Verstehen Sie mich bitte recht. Meine Überlegungen zielen darauf, wie bei Beuys und Heerich, auf eine besondere Katalogform zu kommen. Wir müßten darüber noch sprechen.“55

Braco Dimitrijević produzierte neben Aktionen und Interventionen im öffentlichen Raum konzeptuelle Foto/Text-Serien. In der Mönchengladbacher Ausstellung wurden beide Werkkomplexe präsentiert. So auch im Kassettenkatalog, der neben einem gewellten verzinkten Drahtobjekt zwei Künstlerbücher enthält. Dimitrijević erinnert: In the production of my catalogue, in the small compartment inside the box that contains [a] piece of wire, the text This could be a Master Piece’ was omitted (maybe because of production costs). My proposition was that each owner of the catalogue will fold the wire according to his liking and thus make his own masterpiece’. I conceived the catalogue and Cladders closely followed every proposition. The catalogue was an extension of the show.“56

Die Geschichte des Museums an der Bismarckstraße spannt einen weiten historischen Bogen: vom Aufbruch der späten 1960er Jahre und der Hoffnung auf radikale gesellschaftliche Erneuerung bis zum Deutschen Herbst“ 1977, in eine Zeit, in der der RAF-Terrorismus zu einer der schwersten Krisen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland führte. 

Jannis Kounellis war der letzte Künstler, der 1978 im alten Museum an der Bismarckstraße ausstellte. Sein Kassettenkatalog nimmt schon äußerlich unmittelbaren Bezug auf die Schachtel von Joseph Beuys, die am Anfang des Editionsprojekts stand. In der Schachtel von Beuys liegt die mit Braunkreuz gestempelte Filzplatte, die für das – Material und Materie durchdringende – Wärmeprinzip steht. Kounellis verwendet elf Jahre später Feuer als Metapher für geschichtliche Prozesse, für Vergänglichkeit, Zerstörung und Transformation. Seine Schachtel enthält ein Objekt mit Schwarzpulver-Kerze unter Papierflies, das auf einer Asbest-Platte fixiert ist. Die Schwarzpulver-Kerze lässt sich wie eine Zündschnur anzünden – ein helles, zischendes Leuchten, das eine schwarze Rauchspur auf der grauweißen Platte hinterlässt. 

Das Museum in einer Zeit radikaler Institutionskritik neu denken als einen Ort der freien Zirkulation von Ideen und der interdisziplinären Begegnung: Mit den 35 Kassettenkatalogen, die das Städtische Museum in den Jahren 1967 bis 1978 herausgab, verwirklichten Johannes Cladders und die beteiligten Künstler ein koproduktives Editionsprojekt, das die Identität des Museums an der Bismarckstraße als einer Institution der Gegenwart programmatisch prägte. Hier verbinden sich Konzept, Ereignis und Information. Mit einem Minimum an materiellem Aufwand eröffnen die schlichten Schachteln aus Karton ein Maximum an Raum, Kontext und Inhalt. In ihnen materialisieren sich die partizipativen Ideen der Zeit – die Vorstellung des offenen demokratischen Werks und der aktvierten Betrachter:innen, die intellektuell wie physisch sehr unmittelbar in die theoretischen und praktischen Aspekte künstlerischer und institutioneller Arbeit einbezogen werden. Dabei steht die moderne“ unorthodoxe Ästhetik der Schachteln in einem interessanten Gegensatz zum Museumsgebäude selbst: einem neogotischen Bürgerhaus aus dem späten 19. Jahrhundert mit repräsentativem Eichenholztreppenhaus und sechs Zimmern, dessen private ganz spezifische Atmosphäre“57 (Hans Hollein) die Künstler inspirierte und ein besonderes Nachdenken über den Umgang mit Raum erforderte. Dieses Nachdenken manifestierte sich in einzigartiger Weise im Editionsprojekt der Kassettenkataloge.


* Die Kunstszene der 1960er und 1970er Jahre war von der Dominanz männlicher Positionen bestimmt. Die Marginalisierung von Künstlerinnen spiegelt sich deutlich auch im Ausstellungsgeschehen des Städtischen Museums an der Bismarckstraße. Dies ist der Grund für die eingeschränkte Verwendung von Genderformen im vorliegenden Text: Hier durchgehend von Künstler:innen zu sprechen, hätte Gleichberechtigung suggeriert, wo keine Gleichberechtigung existierte.

** Der Text wurde erstmals veröffentlicht in: Susanne Rennert und Susanne Titz (Hg.), Die Kassettenkataloge des Städtischen Museums Mönchengladbach 1967 – 1978 / The Box Catalogues of the Städtisches Museum Mönchengladbach 1967 – 1978, Museum Abteiberg Mönchengladbach, Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln 2020. Die Autorin hat ihren Text für diese Online-Version geringfügig verändert. 

Quellenangaben / Anmerkungen