RATIONALE SPEKULATIONEN.
Konstruktivistische Tendenzen in der europäischen Kunst zwischen 1915 und 1930.
Ausgewählt aus deutschen Privatsammlungen
RATIONALE SPEKULATIONEN. Konstruktivistische Tendenzen in der europäischen Kunst zwischen 1915 und 1930. Ausgewählt aus deutschen Privatsammlungen, 1.10. – 26.11.1972
EG/Hochparterre und 1. OG
Rekonstruktion und Text: Susanne Rennert
„Ich habe hier den Begriff ‚Konstruktivismus‘ nahezu fahrlässig unkritisch gebraucht. Die Künstler der angesprochenen Zeit würden das wahrscheinlich unverzeihlich finden. Denn es ging ihnen ja auch um Namen und Begriffe. Meine Kenntnis der Sachverhalte reicht allerdings nicht aus, hier den Richter zu spielen. Mit dem Wort ‚Konstruktivismus‘ will ich daher nicht mehr ansprechen als das, was sich dem Auge unmittelbar und sofort als die Klammer erschließt, die die Exponate dieser Ausstellung zusammenhält: die geometrischen Bild- und Konstruktionselemente. Daß man nach Suprematismus, Konstruktivismus, geometrischer Abstraktion, nach Stijl und Bauhaus unterscheiden kann und sicherlich oft auch muß, sei dabei nicht übersehen.“ (Johannes Cladders, 1972)
Die Ausstellung RATIONALE SPEKULATIONEN. Konstruktivistische Tendenzen in der europäischen Kunst zwischen 1915 und 1930 versammelte 200 Werke von ingesamt 71 Künstlern und Künstlerinnen. Rund die Hälfte der Exponate kam aus der Sammlung Etzold, die 1970 als Dauerleihgabe an das Museum Mönchengladbach gekommen war. Mit ihrem Schwerpunkt auf rational-konstruktiven und konkreten Positionen bildete sie so etwas wie das Gerüst dieser Ausstellung. Alle weiteren Werke stammten aus (überwiegend rheinischen) Privatsammlungen sowie aus der Sammlung Gmurzynska in Köln.1 Die Galerie Gmurzynska, die auf die russische und osteuropäische Avantgarde sowie die Abstraktion der Moderne spezialisiert war, spielte im Kontext von RATIONALE SPEKULATIONEN eine besondere Rolle. Sie gab und vermittelte essentielle Leihgaben. Neben Hans Joachim Etzold stellte Antonina Gmurzynska eine wichtige Dialogpartnerin für Johannes Cladders dar.2
Interessant ist, dass die Galerie – die zum damaligen Zeitpunkt unter dem Namen Gmurzynska + Bagera firmierte – parallel zur Mönchengladbacher Schau die Ausstellung „Konstruktivismus – Entwicklung und Tendenzen seit 1913“ in ihren Kölner Galerieräumen präsentierte. Zeitgleich widmete man sich auch an anderen Orten im Rheinland den verschiedensten Ausprägungen konstruktiver Kunst – sowohl im institutionellen wie im kommerziellen Kontext. Dadurch ergaben sich weitere Synergien. Das hatte zur Folge, dass RATIONALE SPEKULATIONEN von der Presse nicht nur als solitäre Veranstaltung, sondern auch im Verbund mit anderen Ausstellungsvorhaben besprochen und rezensiert wurde. (Vgl. dazu Anna Klapheck, Zurück zu Zirkel und Winkelmaß. Zwei exemplarische Ausstellungen in Mönchengladbach und Köln, in: Rheinische Post, 30.10.1972; Eo Plunien, Steinerne Blumen der Geometrie. Zu Ausstellungen in Köln, Düsseldorf, Mönchengladbach und Hannover, in: Die Welt, 10.11.1972.)
Bei Betrachtung der – im Kassettenkatalog abgedruckten – Werkliste wird deutlich, dass es sich bei dem umfangreichen heterogenen Mönchengladbacher Ausstellungsgut großteils um Arbeiten auf Papier handelte. Sichtbar wird ferner, wie weit der Begriff „Konstruktivistische Tendenzen“ gefasst worden war. Cladders betont in seiner Eröffnungsrede, dass es nicht „Sinn und Ziel“ der Ausstellung gewesen sei, „mit großformatigen und repräsentativen Bildern das Gedächtnis an die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts und an die großen und bekannten Namen konstruktivistischen Schaffens zu feiern. Zugegeben: unser Haus hätte sich eine solche Schaustellung allein schon aus finanziellen Gründen nicht leisten können.“3
Von den Künstlern und Künstlerinnen, die zum Nukleus des russischen Konstruktivismus und Suprematismus zählten, waren unter anderem vertreten: El Lissitzky mit zwei Lithografien, Kasimir Malewitsch mit fünf Papierarbeiten, Alexander Rodschenko mit drei Werken und Wladimir Tatlin mit einem Pastell. Von der herausragenden Malerin Ljubowj Popowa zeigte man insgesamt fünf Arbeiten auf Papier und Karton. Die Künstlerin wird in einer Rezension von Wolfgang Stauch-von Quitzow ausdrücklich erwähnt, hier irrtümlich jedoch für einen Mann gehalten: „Bereits 1916/17 kehrt etwa der Russe Ljubowj Popowa von den vorwiegend geometrischen Konstruktionen wieder zur Malerei der Phantasie zurück, erkennen wir Schwingungen, Bögen, Diagonalen, die das Batt ‚aufreißen‘. 4
Banaler Irrtum oder nicht eher doch ein zeittypisches Phänomen – ein Automatismus, der viel über die einseitige Wahrnehmung der damaligen männerdominierten westlichen Kunstwelt aussagt? Interessant ist das Beispiel, weil gerade im Kontext der revolutionären gesellschaftspolitischen Umbrüche der 1910er und 1920er Jahre zahlreiche Künstlerinnen substantielle Beiträge produziert hatten. Folgerichtig waren in der Ausstellung RATIONALE SPEKULATIONEN etliche weibliche Positionen vertreten: Anne Beöthy-Steiner, Ella Bergmann-Michel, Franziska Clausen, Sonia Delaunay-Terk, Alexandra Exter, Ljubowj Popowa und Sophie Taeuber-Arp.
Presse
Jürgen Morschel gibt in der Süddeutschen Zeitung einen anschaulichen Einblick in RATIONALE SPEKULATIONEN: „Die Mönchengladbacher Ausstellung bietet Konstruktivismus nach den Möglichkeiten des Hauses, und die sind – von Engagement, Einfallsreichtum und Aufgeschlossenheit des Hausherrn Johannes Cladders abgesehen – nicht allzu groß. Cladders begnügte sich jedoch nicht damit, seine Ausstellung, der Not gehorchend, so gut es eben ging zu bestücken und mit leidender Miene zu entschuldigen; er versuchte vielmehr mutig, die Not frisch als Chance zu ergreifen: Wenn schon das Angebot an museumsreifen Glanzstücken des Konstruktivismus zum Staat machen nicht ausreichte und das Beiläufige überwog – warum dann nicht einmal gerade dieses Beiläufige zum Gegenstand einer Ausstellung wählen! […] Eine ‚Große Kunstausstellung‘ auf konstruktivistisch, mit vielen bekannten und nicht weniger unbekannten Namen […] – so unbekannt gelegentlich, daß auch der Veranstalter auf Fragen zur Person passen muß. Das Ausstellungsmaterial wird dem Betrachter im Katalog alphabetisch, in der Hängung annähernd, soweit es die räumlichen Möglichkeiten zuließen, nach Ländern geordnet dargeboten; wobei sich die östlichen Länder – Rußland natürlich, aber in überraschendem Maß auch Ungarn – sowie die Niederlande und Deutschland als fruchtbarster Boden für den Konstruktivismus abzeichnen.] Im übrigen war man auch nicht eben pingelig im Abstecken der Grenzen dessen, was sich als konstruktivistisch bezeichnen läßt. Jankel Adler und Schlemmer etwa paßten da ebenso noch hinein wie Schwitters oder eine ‚Rayonnistische Komposition‘ Larionovs von 1907 (während andererseits so wichtige Leute wie Pevsner und Gabo fehlten.) Es geht hier damit gar nicht so sehr darum, spezifische konstruktivistische Gestaltungsideen zu differenzieren, als vielmehr um die Darlegung der Ausbreitung konstruktivistischer Form- und Ordnungsvorstellungen über den engeren Bereich der eigentlichen konstruktivistischen Gruppen hinaus; […]. Das führt zu dem vielleicht bemerkenswertesten Aspekt dieser Ausstellung zurück: Sie ist gegen eine Form von Vermittlung organisiert, die historische Perioden im Konzentrat ihrer Meisterwerke und im Extrakt ihrer Ideen erfahrbar zu machen sucht. […] So leistet die Ausstellung vielleicht auch etwas für ein unmittelbareres Verhältnis zwischen Publikum und Kunst, und dieses Verhältnis ist nicht einfach nur eine Frage des Niveaus, sondern vor allem auch des spezifischen Interesses, das an der Kunst genommen wird, der Überlegungen, unter denen man sie in Betracht zieht.“5
Anna Klapheck schreibt in der Rheinischen Post: „Im folgenden soll besonders von zwei Ausstellungen die Rede sein, die das Thema in ganzer Breite behandeln: das Museum von Mönchengladbach beschränkt sich auf die Zeit zwischen 1915 und 1930, die Ausstellung in der Galerie Gmurzynska/Bargera verfolgt den Faden bis in die Gegenwart. Denn ohne Zweifel: Auch ein Teil der Jugend greift wieder zu Zirkel, Lineal und Winkelmaß. Was liegt dieser Neubewertung der ‚reinen Formen‘ zugrunde? Sicher handelt es sich um eine Gegenbewegung gegen Formlosigkeit und Zerfall. Die Kunst der strengen Regel war aber auch stets die Kunst, die die politischen Revolutionen begleitete. Revolutionen appellieren an die Vernunft. Die Architekten der französischen Revolution (Boullée, Ledoux) kehrten zurück zu den stereometrischen Grundformen Kugel und Würfel. David, Streiter für Robespierre, ging dem verhaßten Rokoko mit Regel und Gesetz zuleibe. Die heute zu beobachtende Vorliebe für den russischen Konstruktivismus, für ‚Revolutionskunst‘ überhaupt, steht gewiß auch in Zusammenhang mit der ‚linken‘ Neigung eines Großteils der Künstlerschaft. ‚Der Regierungsantritt der Geometrie erscheint mir undenkbar ohne eine vorherige Etablierung der Freiheit‘ (Michel Seuphor im Katalog der Kölner Ausstellung). Dr. Cladders, Museumsdirektor von Mönchengladbach, gab seiner Ausstellung, einer Anregung des Bewegungskünstlers Adolf Luther folgend, den Untertitel ‚Rationale Spekulationen‘. Damit soll angedeutet werden, daß das Rationale nicht das Irrationale ausschließt und daß sich gerade im Meßbaren das Absolute enthüllt. Malewitsch und Mondrian, Hauptmeister der ‚Kunst ohne Gegenstand‘ glaubten beide an die ‚universale Harmonie‘. – ‚Das Leben der Götter ist Mathematik‘, hatte schon Novalis geschrieben.“6
Konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft
In seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung merkt Cladders an: „Wenn wir nach Gründen suchen, warum eigentlich der Konstruktivismus so spät öffentliche Anerkennung fand, werden wir – vielleicht nicht an erster Stelle, doch unter anderem – nicht übersehen dürfen, daß diese Kunst von ‚links‘ kam. Sie war weitgehend eine künstlerische Revolution vor dem Hintergrund einer politischen. Sofern es nicht die zeitgenössischen Manifeste und Aussagen der Künstler selbst schon deutlich genug machen, bezeugen es die aus materialistischen Konzepten resultierenden Werke. Wenn der Konstruktivismus in diffamierender Absicht als ‚bolschewistische Kunst‘ hingestellt wurde, war daran zumindest das wahr, daß ein Großteil seiner frühesten Inovatoren aus Rußland kam und daß sie oft Sympathisanten, einige auch Zugehörige der Bolschewiki waren. Daß diese Zugehörigkeit weitgehend auf einem Mißverständnis beruhte, stellte sich dann spätestens Anfang der 30er Jahre – für viele der Künstler erschreckend – heraus. Man kann nur wünschen, daß der Konstruktivismus im Nachhinein nun nicht unter die Räder eines anderen Missverständnisses gerät.“7
In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass die Ausstellung RATIONALE SPEKULATIONEN exakt zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung von Camilla Grays bedeutendem Buch Die russische Avantgarde der modernen Kunst 1863 – 1922 stattfand. Grays Publikation war 1962 in London erschienen, 1963 dann in deutscher Übersetzung bei DuMont Schauberg in Köln. Die britische Kunsthistorikerin war die erste gewesen, die den Konstruktivismus und seine Vorläufer, die in der Ära Stalin – von den späten 1920er Jahren bis in die 1950er Jahre – großteils verfemt und und verfolgt worden waren, grundlegend aufgearbeitet hatte.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass RATIONALE SPEKULATIONEN eine historische Ausstellung war, deren utopisches Potential weit in Gegenwart und Zukunft reichte, stellt das Jahr 1972 ein immens interessantes Jahr dar. In der bundesrepublikanischen Gegenwart traf sie auf einen – mehrfach in Schwingung geratenen – Resonanzboden. Die Entspannungspolitik, mit der Bundeskanzler Willy Brandt inmitten des Kalten Kriegs den Ost/West-Dialog aktivierte, manifestierte sich in den sogenannten Ostverträgen: Am 17. Mai 1972 stimmte der Bundestag dem Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion und dem Warschauer Vertrag mit Polen zu; mit ihrer neuen Ostpolitik setzte die Bundesrepublik künftig auf Annäherung. Im Juni traten die Verträge in Kraft. Insoweit befand sich die Ausstellung RATIONALE SPEKULATIONEN, die am 1. Oktober 1972 im Museum Mönchengladbach eröffnet wurde, ganz auf der Höhe ihrer Zeit.
Quellenangaben / Anmerkungen
KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG
KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG
RATIONALE SPEKULATIONEN. Konstruktivistische Tendenzen in der europäischen Kunst zwischen 1915 und 1930. Ausgewählt aus deutschen Privatsammlungen
Schachtel aus rot beschichtetem Karton mit Wiedergabe einer Malewitsch-Zeichnung im Negativ auf dem Deckel, weißer Aufdruck auf der Seite, geklammert, 20,3 × 16 × 2,5 cm
Inhalt: Typoskript, 7 Einzelkarten, 2 Doppelkarten, 7 Faltblätter, 2 Leporelli
Typoskript mit Eröffnungsrede J. Cladders, 5 S.
Karte mit Titel, verso Dank und Impressum
Verzeichnis der Werke mit 100 S/W‑Abb., alphabetisch geordnet und aufgeteilt in 18 Karten, Doppelkarten, Faltblätter und Leporelli, schwarz u. rot gedruckt
Auflage: 660 nummerierte Exemplare
Gesamtherstellung: H. Schlechtriem, Mönchengladbach
Preis in der Ausstellung: 11 DM
sr