PROGRAMM ZUFALL SYSTEM.
Ein neuer Zweig am alten Konzept der Sammlung Etzold
PROGRAMM ZUFALL SYSTEM, Ein neuer Zweig am alten Konzept der Sammlung Etzold, 4.5. – 11.6.1973
Rekonstruktion und Text: Susanne Rennert
„Sollte sich der Traum des Mönchengladbacher Museumsdirektors Johannes Cladders von einem Museumsneubau erfüllen – und es steht zu erwarten, daß er sich erfüllt –, dann kann dort der Öffentlichkeit eine Sammlung vorgeführt werden, die ein Phänomen an Kontinuität und Geschlossenheit ist: die auf konkrete Kunst (Konstruktivismus, Op-art, Kinetik, geometrische Abstraktion, Minimal-art) spezialisierte Sammlung des Moerser Textilkaufmanns Hans Joachim Etzold.“ 1(Heiner Stachelhaus, 1973)
Ende September 1970 hatte der Rat der Stadt Mönchengladbach die Übernahme der Sammlung Etzold als Dauerleihgabe an das Museum beschlossen. Wenige Tage später wurde die Ausstellung Auswahl aus der Sammlung Etzold im Museum eröffnet – mit rund 80 von insgesamt 203 Werken (Malerei, Skulptur, Objekte, Zeichnungen und Druckgrafik), welche die Sammlung damals umfasste. 2 Seinerzeit bildete sie kein abgeschlossenes Konstrukt, sondern ein Work in Progress. Die Ausstellung Programm Zufall System. Ein neuer Zweig am alten Konzept der Sammlung Etzold, die das Museum Mönchengladbach im Frühsommer 1973 präsentierte, stellte nun einen Teil der Etzold´schen Neuerwerbungen vor, die seit 1970 hinzugekommen waren – insgesamt 124 Werknummern.
Der modellhafte Charakter der Sammlung war in der Ausstellung PROGRAMM ZUFALL SYSTEM 1973 gegenwärtiger als zuvor. Schärfer und aktueller der Fokus, klarer die Konturen, stringenter die Ausrichtung – die Kollektion von Hans Joachim und Berni Etzold zeigte sich jetzt in einem neuen Licht. In der Neuen Rheinzeitung merkt Heiner Stachelhaus dazu an: „Der neue Zweig der Sammlung Etzold ist noch stärker, noch bewußter durch Prinzipien von Rationalität und Systematik der Bildstrukturen und Konstruktionen bestimmt. Selbst der Zufall, der hier ins Spiel gebracht wird, ist gesteuert – nämlich durch vom Künstler intuitiv benutzte Systematik von Computern. Gerade mit diesen Computerbildern, etwa von Nake, Nees, Mohr, zeigt der Sammler Etzold, zu welcher Konsequenz er bereit ist, wenn es darum geht, Gesetzmäßigkeit und Anonymität als Belege konkreter Kunst anzuführen.“ 3
Für den ersten Ausstellungskatalog der Sammlung Etzold (Kölnischer Kunstverein, 1970) hatte der bekannte Bochumer Kunstgeschichtsprofessor Max Imdahl einen Text verfasst.4 Mit Bernhard Kerber gewann das Museum Mönchengladbach nun einen weiteren namhaften Kunsthistoriker der Ruhr-Universität Bochum für ein Etzold-Projekt. Kerber verfasste die Texte für den Kassettenkatalog Programm Zufall System. Seine dreiteilige Gliederung – 1. Serien und Systeme, 2. Indeterminiertes Forschen, 3. Apparative Versuche – strukturierte das Material und bildete zugleich dessen intellektuelles Gerüst.
Auch hielt Kerber am Abend des 4. Mai 1973 die Eröffnungsansprache zur Ausstellung im Museum an der Bismarckstraße. In ihrem Artikel „Kunst in systematischen Experimenten. Die jüngsten Erwerbungen der Sammlung Etzold“ berichtet Claudia Junkers in der Westdeutschen Zeitung: „Professor Bernhard Kerber […] führte ein in die Ausstellung. Das Motto ‚Programm – Zufall – System‘ berge nur scheinbar einen Widerspruch. Denn bei allen gezeigten Arbeiten sei der Zufall vom Künstler programmatisch genutzt. Der Kunsthistoriker aus Bochum hob auch an diesem ‚Zweig am alten Konzept‘ das Moment der Rationalität hervor, das die Sammlung Etzold seit den Anfängen charakterisiert. Das mathematische, systematische Kalkül tritt nach Kerbers Meinung in den jüngsten Erwerbungen am deutlichsten zutage: ‚Systematische Experimente nähern die künstlerische Arbeit dem wissenschaftlichen Versuch [an] und tendieren auf objektive, allgemeingültige Definition‘. Den kreativen Sprung sah der Bochumer Experte bei diesen Arbeiten in der Mutation, der ständigen Variierung des Themas. Die Sammlung Etzold ist für Kerber mehr als die Dokumentation zeitgenössischer kunstphilosophischer Ideen. Das hervortretende Moment der Rationalität, das als roter Faden den gesamten künstlerischen Sammelbestand durchzieht, enthält den Keim zum neuen, umfassenden gesellschaftlichen Entwurf, sei utopisches Modell.“5
„Apparative Versuche“: Computergrafik
In die Zukunft wiesen damals vor allem jene Werke in der Ausstellung, die nicht manuell, sondern unter Anwendung eines Computers produziert wurden. Zu dieser Werkgruppe aus den 1960er und frühen 1970er Jahren, die das Sammlerehepaar Etzold ausgesprochen früh erwarb, zählten die Computerzeichnungen und ‑grafiken von Herbert W. Franke, Manfred Mohr, Frieder Nake und Georg Nees. Im Kassettenkatalog PROGRAMM ZUFALL SYSTEM wurden sie von Bernhard Kerber der Kategorie „3. Apparative Versuche“ zugeordnet: „Derartige Versuche stehen im Kontext der Informationstheorie wie sie von Abraham Moles und Max Bense entwickelt wurde. Nach wie vor liegt die kreative Leistung beim Menschen und zwar selbst dann, wenn ‚Intuition‘ durch einen sog. Zufallsgenerator als Faktor in den Ausführungsprozeß eingeplant ist. Es besteht also keine qualititative, sondern lediglich eine quantitative Differenz zu manuellen Verfahren, nämlich der Imperativ größerer Ökonomie als Beschleunigung der Ausführungsmechanik. Nach vereinzelten Vorläufern werden Computer seit 1963 systematisch zur Produktion von Digitalgrafik, z.T. auch von dreidimensionalen Arbeiten eingesetzt […].“6
Jahrzehnte vor der Computerisierung und Digitalisierung öffentlichen und privaten Lebens transportierten derartige Werke also Ideen einer Objektivierung, Rationalisierung, Automatisierung – damit verbunden seinerzeit auch: Demokratisierung – von Arbeitsprozessen, die neu waren. Auch öffneten sie das Feld der Kunst in Richtung Wissenschaft. Folgerichtig stammten die „Computergrafiker“ – wie Felicia Rappe ausführt – „aus unterschiedlichen fachlichen und beruflichen Umfeldern – Ingenieure, Künstler, Grafiker, Informatiker, Mathematiker – und waren auch deshalb in der ‚Kunstszene‘ teils noch unbekannt. […] ‚Der Künstler lässt sich nach erfolgter Programmierung ‚bei der Realisation durch die Zeichenanlage bis zu einem gewissen Grad überraschen‘, so Frieder Nake. Und wird in der langen Wartezeit vor dem Graphomat Z64 zum Beobachter. Fasst man diese Prinzipien, diese unterschwellige Haltung der Computergrafik und deren entsprechendes Künstlerbild zusammen als eine Abneigung gegen die Bündelung von Handlungsmacht und gegen ausschließliche Hierarchien, als ein Prinzip von Mitsprache und Teilhabe an Prozessen, dann fügt sich der kleine kulturelle Teilbereich der Computergrafik ein in den weiteren politischen Kontext der Studentenrevolten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre.“ 7
Rappe widmete diesem bemerkenswerten Segment der Sammlung Etzold den zweiten Teil einer Ausstellungstrilogie, die sie 2018 im Museum Abteiberg initiierte: DIE ZUKUNFT DER ZEICHNUNG: ALGORITHMUS. Das Neue in der Sammlung Etzold – Folge 2. Das Booklet, das zu dieser Ausstellung publiziert wurde, stellt eine höchst aufschlussreiche Ergänzung zum Kassettenkatalog PROGRAMM ZUFALL SYSTEM von 1973 dar.
„Die laufende dreiteilige Ausstellungsreihe zur Sammlung Etzold stellte dem aktuellen Teil zum Algorithmus im Jahr 2017 einen ersten Teil zum Thema Konstruktion voran und lässt Anfang 2019 mit Konzept den dritten Teil folgen. Damit bettet sie die Computergrafik in die oben skizzierten Zusammenhänge mit der geometrischen Abstraktion einerseits sowie mit der Konzeptkunst andererseits ein und erweitert den Fokus, der 2006 in der Ausstellung Anfänge der Computergraphik aus der Sammlung Etzold auf diese besondere Werkgruppe gerichtet war. Seit 2006 verändert sich stetig und mit sich fortsetzender technischer Entwicklung der Bereich, in dem bildende Kunst und Technik zusammentreffen. So werden etwa Technologien virtueller und erweiterter Realität längst in der Kunstproduktion genutzt. Um ein Schlaglicht auf die gegenwärtigen Entwicklungen zu werfen, integriert das Museum Abteiberg mit dem Künstlerduo Banz & Bowinkel eine zeitgenössische Position in die aktuelle Ausstellung: Mittels einer App erweitert sich eine Computergrafik auf dem Bildschirm des Smartphones oder Tablets zur virtuellen Skulptur. Gerade von der heutigen Warte aus kann ein erneuter Blick auf die Anfänge der Zusammenschlüsse von Kunst und Computer im besten Fall für beide Positionen erkenntnisreich sein.” 8
Quellenangaben / Anmerkungen
Johannes Cladders, Text des Kassettenkatalogs und Rede zur Eröffnung der Ausstellung
Ein neuer Zweig am alten Konzept der Sammlung Etzold:
Dieser Untertitel zur Ausstellung verweist auf die Herkunft des Materials, das unter dem thematischen Aspekt “Programm, Zufall, System“ dargeboten wird. Im Herbst 1970 ging die Sammlung Hans Joachim und Berni Etzold als Dauerleihgabe in die Obhut des Städtischen Museums über. Zuvor war sie im Kölnischen Kunstverein präsentiert worden. Der aus diesem Anlass herausgegebene Bestandskatalog umfasste 203 Titel. Inzwischen wurde die Sammlung erheblich erweitert. Der vorliegende Katalog, der eine Fortsetzung des ersten Verzeichnisses darstellt, umfasst allerdings nicht alle Neuzugänge. Er berücksichtigt nur solche Objekte, die einen Beitrag zum Thema der Ausstellung leisten. Diese, wie auch die anderen, hier nicht verzeichneten Neuerwerbungen wurden dem Städtischen Museum Mönchengladbach ebenfalls als Dauerleibgabe zur Verfügung gestellt.
„Die Sammlung stellt eine sehr konsequente Auswahl moderner Kunst dar. Die Mehrzahl der ausgestellten Werke bezeugt ein einheitliches Kunstwollen. Dieses ist rational bestimmt.“ Diese Charakterisierung, mit der Max Imdahl im Katalog 1970 die Sammlung Etzold einführte, ist zutreffend geblieben - auch für den „neuen Zweig“. Neben der Komplettierung und Erweiterung des alten Bestands widmete sich der Sammler wiederum einem besonderen sich gleichgebliebener Konsequenz, die auch den Mut zur Entdeckung, zum momentan wenig Beachteten oder gar Unpopulären einschließt, verfolgte und realisierte er sein Vorhaben.
Wenn auch die Formulierung eines möglichst präzisen Titels für die Präsentation des „neuen Zweigs“ einige Schwierigkeiten bereitete, von der Sache selbst her war das Thema jedoch von vornherein in den Neuerwerbungen unmissverständlich angelegt. Es ergab sich aus der folgerichtigen Ausweitung dessen, was Imdahl im Kölner Katalog als „Affinität zum Konstruktiven“ bezeichnet. Der damals vorhandene Bestand der Sammlung legte in Anlehnung an die kunsthistorische Erscheinung des „Konstruktivismus“ eine verbal-analoge Bezugnahme nahe. Dass die damitangerissene Grundhaltung über rein formale Erscheinungsweisen hinaus entwickelbar ist, belegt ihre intensive Verfolgung in der Sammlung Etzold. Ihre Konsequenz ist die des „Antritts“, die ihr „Gesetz“ geworden. Jedoch nicht um jedes unbedachten Preises willen, sondern der Aufzeichnung einer Kontinuität halber, die sich zwar vielfach verästelt hat, bis heute jedoch zwanglos verfolgbar bleibt. In diesem Sinne erweisen sich die Neuerwerbungen auch nicht als ein zufälliges Anhängsel oder eine willkürliche Ausweitung, sondern als ein zwanglos natürlich angewachsener „Zweig am alten Konzept“.
Die Sammlung Etzold kennzeichnet sich unverwechselbar dadurch, dass sie nicht unbedingt allgemeinen Trends folgt, sondern dass sie sich ihrer eigenen Untersuchungsrichtung einer spezifischen Fragestellung verpflichtet weiß und geblieben ist. Das Städtische Museum Mönchengladbach konnte sie bisher mehrfach in Sonderausstellungen vorführen. Die unzulänglichen, räumlichen Voraussetzungen des Museums verhinderten jedoch eine Gesamtübersicht. Sie wird erst im geplanten Museumsneubau möglich werden. Dann aber- und das scheint ohne Zweifel - leistet sie sicherlich zur Erhellung der Kunst des 20. Jahrhunderts einen wesentlichen Beitrag. Dank ihrer kompromisslosen Konsequenz, die ihresgleichen sucht. Sie zeichnet sich durch Engagement aus.
KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG
KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG
PROGRAMM ZUFALL SYSTEM. Ein neuer Zweig am alten Konzept der Sammlung Etzold, 4.5.–11.6.1973
Schachtel aus weiß beschichtetem Karton, Deckel schwarz-grau bedruckt mit Ausschnitt eines Werks von Klaus Basset (Kat. Nr. 76), geklammert, 20 × 16 × 2,5 cm
Inhalt: Ausstellungsbroschüre, 4 Siebdrucke
Broschüre mit Einführungstext von J. Cladders, Texten von Bernhard Kerber und Verzeichnis der Werke (124 Nummern), 18 S/W‑Abb., 44 S.
Mappe mit 4 Siebdrucken von François Morellet, 1973, je 15,4 × 19,2 cm
Auflage: 330 nummerierte Exemplare. Die Siebdrucke der Exemplare 1 – 99 sind vom Künstler signiert
a) bez. verso o.l.: 0° 1/120 Morellet
b) bez. verso o.l.: 0°45° 1/120 Morellet
c) bez. verso o.l.: 0° 22°5 45° 67°5 1/120 Morellet
d) bez. verso o.I.: 0°11°25 22°5 33°75 45°56°25 67°5 78°75 1/120 Morellet
Preis in der Ausstellung: 12 DM (unsignierte Ex.), 47 DM (signierte Ex.)
sr