MANZONI. Retrospektivausstellung



Manzoni. Retrospektivausstellung, 25.11.1969 – 4.1.1970
Piero Manzoni (1933 Soncino, Cremona – 1963 Mailand / I)
EG/ Hochparterre: Gartensaal, Treppenhaus, Raum III?
1.OG: alle Räume (VI, VII, VIII und IX)
Erste Einzelausstellung des Künstlers in einem Museum. Kooperation mit und Übernahme vom Stedelijk van Abbemuseum, Eindhoven (26.9.– 9.11.1969). Im Anschluss an die Ausstellung in Mönchengladbach Präsentation der Retrospektive im Kunstverein Hannover (26.1. – 28.2.1970) und im Stedelijk Museum Amsterdam (13.3. – 26.4.1970).
Rekonstruktion und Text: Susanne Rennert
Die Initiative zu dieser ersten Retrospektive des 1963 jung verstorbenen Künstlers ging von Jean Leering aus.1Der Direktor des Eindhovener van Abbemuseums war im Rat der 4. documenta vertreten, die Manzoni 1968 in Kassel einem größeren internationalen Publikum bekannt machte. Noch während der Laufzeit der documenta schrieb Cladders am 26.8.1968 an Leering: „Für 1969 habe ich mehrere Pläne, aber wie gesagt, ich kann darüber noch nicht befinden. Was die Manzoni-Lo Savio- Ausstellung betrifft, könnte ich mir vorstellen, daß den Manzoni-Teil Ende 1969/Anfang 1970 hier zeige.“2Im Juli 1969 trafen Leering und Cladders eine schriftliche Vereinbarung zur Kooperation.3Hannover und Amsterdam kamen als dritte und vierte Station der Ausstellungstournee später hinzu.


Leering stellte den größten Teil der Leihgaben aus Italien, Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Dänemark zusammen. Für Mönchengladbach organisierte Johannes Cladders zusätzlich ein umfangreiches Konvolut dokumentarischen Materials, das in der Ausstellung in hohen Glasvitrinen präsentiert wurde. Anhand dieser Leihgaben aus dem Archiv Sohm in Markgröningen – Einladungskarten, Plakate und Kataloge – ließ sich sich nicht nur der konzeptuelle und performative Aspekt im Werk Manzonis greifbarer darstellen. Auch die weitreichenden Gruppenaktivitäten des Künstlers, sein einflussreiches Agieren innerhalb eines ausgedehnten Netzwerks von Künstlerfreunden und ‑kollegen (Zero, Nul, Nouveau Réalisme), die Aktivitäten für Azimut – von Manzoni und Castellani initiierte Galerie und gleichnamige Zeitschrift in Mailand – wurden anhand der Archivalien sichtbar. Am 28.10.1969 schreibt Cladders an den Sammler Hanns Sohm, der wenige Monate vorher bereits zahlreiche Leihgaben aus dem Archiv Sohm für George Brechts/Robert Fillious La Cédille qui sourit. Eine Ausstellung mit Arbeiten, Dokumenten, Geschehnissen nach Mönchengladbach gegeben hatte: „Lieber Herr Sohm, Ihr Dokumentationsmaterial Manzoni ist wohlbehalten eingetroffen. Vielen Dank für Ihre freundliche Hilfe. Das Material ist ausgezeichnet. Es füllt genau die Lücken der Ausstellung, die auf Dokumentation einfach nicht verzichten sollte. Herzliche Grüße, Ihr C“4
Am Eröffnungsabend hielten Johannes Cladders und der Zero-Künstler Heinz Mack, ein enger Freund Piero Manzonis und seit 1967 in Mönchengladbach ansässig, die Einführungsreden. 5


Anhand des Pressespiegels wird deutlich, wie nachhaltig die Presse von der Ausstellung inspiriert war, die nahezu einstimmig als ästhetisches und intellektuelles Ereignis angenommen wurde.
Der Autor und Filmemacher Gerd Winkler, der in seinem Dokumentarfilm 0 x 0 = kunst: maler ohne farbe und pinsel (1962) zu Zero und Nouveau Réalisme unter anderem auch Manzoni porträtiert hatte, resümiert in der Zeitschrift Public: „Und jetzt Manzoni: 83 Exponate und das greifbare Dokumentationsmaterial. Eine Manzoni-Ausstellung von einer noch nie dagewesenen Vollständigkeit. Das Material kam zum größten Teil vom Stedelijk Van Abbemuseum Eindhoven. Mehr als die Hälfte der Arbeiten stammt aus dem Besitz von Manzonis Mutter. Für Eingeweihte keine Wiederentdeckung, sondern längst fällige Rechtfertigung und Bilanz. […] Manzoni zog aus, um Bindungen zu lösen. Es schwebte ihm vor, den Erdball auf einen Sockel zu stellen – das totale Kunstwerk. Manzoni war ein Optimist und trotz utopisch anmutender Ideen ein Vertreter der Authentizität des Realen. Er war ein konsequenter Grenzüberschreiter. Die sechs Jahre nach seinem Tod lassen den Schluss zu, daß es keine Irrtümer in seiner Kunst gibt. Heinz Mack, der in Mönchengladbach eine sehr persönliche Rede auf Manzoni hielt, zählt ihn neben Duchamp, Yves Klein und Lucio Fontana zu den großen Wegbereitern der Gegenwartskunst.“6
Die Kunstkritikerin Helga Meister fasst in der Westdeutschen Zeitung zusammen: „Das Städtische Museum Mönchengladbach erinnert mit der Retrospektive des Mailänders an einen großen Anreger und Experimentator, an einen Humoristen und Puristen, an einen Nachfahren Dadas und Vorfahren der Konzept-Kunst, einen Zero-Freund und einen Monochromen. Manzonis Werk zeigt sich im Rückblick als überaus flexibel. In wenigen Jahren seiner kurzen Schaffenszeit, von 1958 [sic] bis zu seinem Tode, durchschritt er die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten im Laufschritt. […] Manzonis ‚Achrome‘ bestanden zunächst aus weißer Glaswolle, aus Watte und watteähnlichen weichen Stoffen; Zellwoll-Lagen wurden aneinandergenäht, so daß die Naht den Stoff strukturierte. Wattebäusche und weiß gestrichene Brötchen wurden addiert, Stroh und Plastik in Weiß getränkt, haarige Gebilde aufgeklebt, leimgetränkte Stoffe gerafft … Das Ergebnis war eine Bewegtheit im Raum, die zu dem werden sollte, was der Künstler als ‚reine Energie‘ bezeichnete. Mit Stroh und Watte ließ sich derartiges jedoch kaum schaffen, jedenfalls entstand auf diese Weise nicht Energie im Sinne von Kraft, Vitalität und Leben. So griff er denn sozusagen zu energetischen Materialien: Luftballons, mit ‚Künstler-Atem‘ gefüllt, ironisch als solcher bezeichnet, schwebten in der Luft. (In Mönchengladbach war der ‚pneumatischen Pracht‘ jedoch die Puste ausgegangen und nichts als klägliche Gummi-Reste zurückgeblieben.) 1961/62 signierte er weibliche Aktmodelle, aber auch hart gekochte Eier, klebte Filzeinlagen auf einen Sockel, als Fußabdruck, und ermunterte die Zuschauer, als lebende Monumente aufs Podest zu steigen. Linien verschiedener Länge schließlich ruhten in Kartons und Kästen, die Zeit als Vergänglichkeit festhaltend.“7
Heiner Stachelhaus schreibt in der N.R.Z. vom 2.12.1969: „So früh, so konsequent hat niemand die alte Kunst überholt. Manzoni arbeitet, 1959 bis 1960, an einer Skulptur, die auf Sonnenenergie reagiert. Er stellt, 1960, in Kopenhagen und in Mailand hartgekochte, mit seinem Fingerabdruck versehene Eier aus, die das Publikum innerhalb von 70 Minuten aufaß – eßbare Kunst. Er signiert, 1961, Personen, stellte ihnen ‚Echtheitszeugnisse‘ als Kunstwerke aus. Im gleichen Jahr baut er seinen ersten ‚magischen Sockel‘ und produziert und verpackt – das wirkte wie ein Schock – 90 Dosen ‚Künstlerscheiße‘ zu je 30 Gramm, in natürlichem Zustand konserviert.“8Und Richard E. Tristram beginnt seinen Artikel in der Rheinischen Post mit den Worten: „Zu Lebzeiten war er nur wenigen bekannt. Heute, sechs Jahre nach seinem Tode, greifen die Kunstsammler nach seinem Nachlaß. Manzoni, der zu Lebzeiten kaum einen Marktwert besaß, bringt hohe Preise, und die Kunstgeschichte ordnet ihn ein unter diejenigen Künstler von europäischem Rang, die um 1959 eine Umwertung der Werte, eine Umfunktionierung der Kunstbegriffe und eine neue Materialkunst proklamierten.“9

Kassettenkatalog Manzoni
Der Mönchengladbacher Kassettenkatalog zählt aufgrund seiner Informationsdichte bis heute zu den substantiellen Quellen der Manzoni-Forschung. Neben Texten von Udo Kultermann und Johannes Cladders enthält das, in eine transparente Kunststoffkassette eingelegte und auffällig gelayoutete, Katalogheft Piero Manzonis fesselnden Bericht „Einige Realisationen, Einige Experimente, Einige Projekte“ von 1962. Zahlreiche Bildbeispiele und ein umfangreiches Verzeichnis der Werke dokumentieren den radikal erweiterten Kunst- und Materialbegriff des Künstlers.

Der Katalog dokumentiert, dass zu den internationalen Leihgeber:innen der Ausstellung auch die Sammlung Etzold, das Krefelder Kaiser Wilhelm Museum sowie dessen ehemalige Mitarbeiter Siegfried Cremer und Johannes Cladders zählten.
Über Hans Joachim Etzold, Cremer und Cladders lässt sich eine interessante Verbindung zur Galerie Køpcke in Kopenhagen (1958 – 1963) dokumentieren, die 1960 Manzonis Ausstellung „Luftskulptur, Billeder, 9 Linier“ [Luftskulpturen, Bilder und Linien] und 1961 „Kunstnerlort“ [Künstlerscheisse] gezeigt hatte. Der Künstler hatte damals auch „Levende Kunstværker“ [Lebende Kunstwerke] signiert und zertifiziert.10 Das Zertifikat („CARTE D´AUTHENTICITÉ No. 52“), das Manzoni bei dieser Gelegenheit auf Addi Køpckes Ehefrau Tut ausstellte, findet sich als Faksimile auf der vorderen Umschlaginnenseite des Mönchengladbacher Kassettenkatalogs. „On certifie que Tut Köpcke a été signe(e) par ma main et pour autant est consideré(e) à partir de la date ci-dessous oeuvre d´art authentique et veritable. Signature Piero Manzoni, Copenhague le 16 oct. 1961”11
Auf den letzten Seiten der Katalogbroschüre befindet sich ein Foto der berühmten – auf dem Kopf stehenden – Manzoni-Skulptur Socle du Monde (1961), die der Künstler selbst auf dem Gelände des dänischen Kunstsammlers und Textilfabrikanten Aage Damgard in Herning installierte. Im Archiv des Museum Abteiberg ist ein Brief des bedeutenden Manzoni-Mäzens erhalten, der am 11.12.1969 an das Museum Mönchengladbach schreibt: „Sehr geehrte Herren, Vielen Dank für den schönen Manzoni-Katalog. Falls Sie einige Kataloge übrig haben, würde es mich sehr freuen, wenn Sie mir noch ein Paar [sic] Kataloge übersenden wollten. Im voraus besten Dank. Mit freundlichen Grüssen Aage Damgaard“12
Im Anschluss an die Ausstellungseröffnung in Mönchengladbach traf man sich im kleinen Kreis im Privathaus des Sammlers und Museumsvereins-Vorsitzenden Karl Heinemann. Anwesend waren hier u.a. die Künstler George Brecht, Robert Filliou, Heinz Mack, Panamarenko, Günther Uecker, Stefan Wewerka, sowie die Sammler Erik und Dorothee Andersch, Isi Fiszman und Manfred de la Motte – der Direktor des Kunstvereins Hannover, der die Ausstellung im Anschluss übernahm.
Quellenangaben / Anmerkungen
1. Johannes Cladders, Rede zur Eröffnung der Ausstellung, 1969; 2. Text von Heinz Mack: "Über Piero Manzoni", 2008; 3. Text von Piero Manzoni: "Einige Realisationen, Einige Experimente, Einige Projekte", 1962
Piero Manzoni, dieser Name bedeutete vielen immer schon eine Ungewissheit – und bedeutet es auch heute noch. Wer war er denn? Was wollte er? Selbst seine Freunde standen gelegentlich ratlos vor dem, was er tat; was er unternahm, um die Kunst in neue Bahnen zu lenken, sie sozusagen umzufunktionieren, wohin zu wenden? – müssen wir fragen – in welche Funktion zu bringen? „Tout est permis“, alles ist erlaubt – dieser Ausspruch Manzonis aus 1960 zielt sicherlich nicht darauf, eine absolute Wahllosigkeit zu propagieren, sondern dem Notwendigen Handlungsfreiheit zu geben. Es zielt darauf, Bindungen lösen zu können und zu dürfen, die für das bisherige Kunstschaffen verbindlich waren, es aber nicht mehr sein können, will und soll die Kunst nicht in Unverbindlichkeit abgleiten, in die Selbstbefriedigung des schönen Scheins. So leicht es sich sagt: „alles ist erlaubt“, so schwer ist es, diesen Satz im Sinne der Notwendigkeit und Verbindlichkeit des Tuns in Realien umzusetzen. Nonsens zu produzieren, ist nämlich eben so leicht, wie es schwer ist, Sinnvolles zu tun.
Das zunächst denen, die immer meinen, das kann ich auch. Und sie werden sicherlich auch diesmal nicht ausbleiben, angesichts einfach weiß getünchter Leinwände, Brötchen, Strohbündeln und Steine, lang gezogener und eingebüchster Linien. Angesichts von Bildern, deren Raster nur durch ein paar Nähte gebildet werden oder durch quadratische Wattestücke; von Bildern, die nicht mehr als Nylonbüschel enthalten oder aus einem Stück Styropor bestehen und angesichts von Objekten, die nicht mehr als signierte Eier sind oder ein Sockel, auf dem absolut nichts steht, das man als Kunst bestaunen könnte. „Das kann ich auch“. In diesem Satz wird das „können“ vom „auch“ aufgeschluckt. Für die Kunst aber widerruft das „auch“ das „können“ im Sinne kreativer Leistung. Das „auch“ bezeichnet nämlich das nicht eigenschöpferische Abschauen, das Tun im Nachhinein. Und das ist in der Tat – und nicht nur im Fall Manzoni – immer leicht.
Aber genau einen solchen leichten Weg ging Manzoni selber nicht – selbst auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden oder unverstanden zu bleiben. Mit einer gewissen Radikalität bemühte er sich um den kreativen Ansatz, indem er den Punkt Null suchte, um möglichst sicher und entschieden dem unschöpferischen „auch“ auszuweichen. Ich werde bewusst und gern hier dieses Wort „Null“ verwenden, weil es den Zusammenhang anklingen lässt, in dem Manzonis Werk entstand, weil unter diesem Wort seine künstlerischen Weggefährten mehrfach zusammen ausstellten, weil es für die Situation etwa des Jahres 1958 kennzeichnend wurde, und zwar für einen künstlerischen Bereich, der damals und dort seinen Ausgang nahm. Unter dem Namen ZERO entwickelte man auf deutscher – unter dem Namen „nul“ auf niederländischer Seite – vergleichbare Aktivitäten. In Italien waren es etwa Fontana, Castellani, Lo Savio und in Frankreich Yves Klein, um nur mit wenigen Gruppen und Künstlernamen den Zusammenhang aufzuweisen, in dem Manzoni gesehen werden muss. Er hat zweifellos sehr viel von seinen Freunden gelernt; wie umgekehrt sie vieles von ihm annehmen konnten. Aus dieser Wechselwirkung erwuchs ein damals echt gegenwärtiger, zeitgenössischer – und die Zeitgenossen nicht selten schockierender – Beitrag. Ein – so hofft es diese Ausstellung auch darzutun – unverwechselbarer Beitrag, der Kunst neue Wege zu weisen, die gangbar sind und zu neuen Konsequenzen und daher glaubwürdigen Ergebnissen führen.
Udo Kultermann hat in seinem Textbeitrag im Katalog dieser Ausstellung das Bemühen Manzonis dahingehend zusammengefasst, dem Künstler sei es nicht um kompositionelle Veränderung eines bereits Bestehenden gegangen – lediglich also um die künstlerische Verformung, Anordnung und ästhetisch abgewogene Zuordnung von zu bearbeitendem Material und innerhalb dieses Materials –, sondern es sei ihm auf das Reale schlechthin angekommen, auf die Authentizität des Realen. Nun, jedes Reale hat in sich selbst auch die Realität des So-und-nicht-anders-geformt-seins. Das waren auch nicht Frage und Problem Manzonis. Es ging um die Kunst und die Möglichkeiten, sie umzufunktionieren, damit sie Kunst bliebe. Und sicherlich funktionierte die Kunst Jahrhunderte lang durch kompositionelles Verändern eines Bestehenden. Es war ihr spezifisches Medium des Sichtbarmachens von Bestehendem. Hier setzt nun der Hebel Manzonis – allerdings auch einer Reihe von Vorläufern, Wegbereitern und Weggenossen an. Realität wird mit ihren eigenen Daseinsweisen gelockt, sich zu erkennen zu geben. Leben und Kunst sind hier nicht mehr zu trennen, und das ist auch das Fazit, das man mit Kultermann ziehen kann. Es mag sofort einleuchtend erscheinen, wenn man dabei an die Signierungen lebender menschlicher Körper denkt, die Manzoni 1961 vornahm, Lebendiges selbst zum Kunstwerk zu deklarieren. Es mag sofort einleuchtend erscheinen bei den Abdrücken seines Daumens auf gekochte Eier, beim „Socle du monde“, der den Erdball selbst als Kunstwerk trägt, oder bei dem anderen Sockel, bei dem jedes Ding oder jede Person, die sich darauf befindet, kraft der Sockeleigenschaft und des Titelschildes sich wie auf magische Weise durch Deklaration zum Kunstwerk verwandelt. Leben = Kunst, das wird auf scheinbar drastische Weise in den Büchsen mit „merde d’artiste“, um es vorsichtig und vornehm in französischer Bezeichnung zu benennen, vorgeführt. Leben = Kunst, das ist offensichtliches Thema der Balance mit dem Atem des Künstlers. Aber die Bilder – sie lassen sich ja noch im überkommenen Sinne als Bilder ansprechen – wie steht es da mit der Authentizität des Realen? In dieser Ausstellung sind zwei Arbeiten aus 1957, die aus dem Rahmen der anderen Exponate fallen. Das eine mit Anklängen ans Informell, an tachistische Malweisen und neo-expressionistische – etwa der Gruppe Cobra. Das andere fast surrealistisch, jedenfalls erzählend und mit dem ausgeschriebenen Wort „Genus“ versehen. Manzoni kam aus diesen vorgängigen Schulen der Malerei, und daran sollen diese Bilder auch in dieser Ausstellung erinnern, und er blieb ihnen auch in seinen „Bildern“, diesmal in Anführungszeichen, verhaftet, wenigstens im äußeren Erscheinungsbild. Da sind die mehr oder weniger tachistisch komponierten Lappen- oder Glaswollfaserbilder, Bilder aus zerfressenem Styropor oder hingestreuten Steinchen und andererseits die mehr oder weniger strengen, konstruktivistisch komponierten mit horizontalen und vertikalen Nähten, mit quadratischen Wattestücken oder säuberlich gereihten Brötchen. Aber diese „Bilder“ sind auch wiederum Bilder ohne die den überkommenen Bildbegriff andeutenden Anführungszeichen. Sie sind zugleich Gegenstände des Realen, sie sind reales Bild, Lappen und Glaswolle, Styropor und Steinchen, Watte, Nähte und Brötchen. Und sie sind alle weiß, getränkt in eine Farbe, die eine Nicht-Farbe ist, sozusagen eine „Null“-Farbe, einbezogen in eine Egalität, in eine Gleichheit und Gleichberechtigtheit ähnlicher Art wie die, die in dem Satz „Leben = Kunst“ postuliert und in solcher Forderung zugleich auch geschaffen wird. Dass Manzoni seine Bilder so verstanden hat, wird schon daran deutlich, dass er sie nicht wie eine Vorstufe abschüttelte als er zu vermeintlich viel deutlicheren Mitteln der Darbietung der Authentizität des Realen fand, sondern diese Bilder bis zu seinem Tode fortführte.
Manzoni wurde 1933 in Mailand geboren. Er starb am 6. Februar 1963 eben in dieser Stadt, in der er sein Atelier hatte, von der es ihn aber auch immer wieder weg zog, Kontakte zu suchen, Anregungen zu geben und zu empfangen und eine erstaunliche internationale Aktivität zu entwickeln. Insbesondere in Deutschland und in den Niederlanden, in Belgien und Dänemark hatte er seine Freunde und die Kreise, die sein Bemühen verstanden. Wir wissen um die allgemeine internationale Verflechtung künstlerischer Bemühungen, und die ist nicht etwa besonders neu, etwa ein spezifisches Kennzeichen unserer Zeit. Obwohl also Manzoni für viele unbekannt oder ein Fragezeichen blieb, muss man andererseits auch sagen, dass er schon zu Lebzeiten international bekannt war. Nicht die Quantität dürfte dabei die entscheidende Rolle spielen, sondern die Qualität, nicht die Breitenwirkung, sondern die Intensität, mit der er auf das Kunstschaffen selbst Einfluss nahm. Es steht wohl außer Zweifel, dass die außergewöhnlichen Aktivitäten Manzonis zu seinen Lebzeiten nicht ohne Einfluss blieben. Diese Ausstellung hier ist jedoch eine Retrospektiv-Schau, bei der sich unabweisbar auch die Frage aufdrängt, wo denn dieser Einfluss geblieben ist; d.h. ob, und – wenn ja – wo er weiter existiert. Es ist die Frage, ob sich sein Werk hält und damit seine Notwendigkeit heute auch bestätigt. Es ist die Frage nach seiner Lebendigkeit, und die wiederum ist identisch mit der nach der Geschichtswirksamkeit. Ich bin in meinem Katalogbeitrag dieser Frage etwas nachgegangen und habe ein wenig die Statistik um Antwort bemüht. Wenn man grob überschlägt, halten sich z.B. Ausstellungs- und Publikationserfolge des Künstlers in den sechs Jahren vor und in den sechs Jahren nach seinem Tod bis heute in etwa die Waage. Wenn man nun auch noch das Interesse z.B. an den Preisen ablesen will, die für seine Arbeiten erzielt werden, zeigt sich eine nicht unerheblich steigende Tendenz, was übrigens im Falle Manzoni nicht schwer ist, da er zu Lebzeiten praktisch überhaupt keinen Markt hatte. Doch das sind – so aufschlussreich sie auch für den Stand des Interesses an Manzoni sein mögen –schließlich äußerst periphere Erscheinungen. Sie tangieren die künstlerische Relevanz nur oberflächlich. Wichtiger sind die in der Kunst sich vollziehenden Entwicklungen, die sich an ein Werk knüpfen, die sich mit ihm in ursächliche oder auch indirekte Beziehung bringen lassen.
Was geschah denn in diesen Jahren nach Manzonis Tod? Der Nouveau Réalisme und ZERO – einmal als sicherlich anfechtbaren Sammelbegriff für alle Bestrebungen von Monochromie bis Müll genommen – hatten längst ihr Repertoire formuliert und Manzoni selbst hatte ja daran mitgewirkt. Zur Pop Art etwa steuerte er direkt erkennbar nichts bei. Doch auch für sie waren die Weichen 1963 bereits klar gestellt. Was nach diesem Zeitpunkt mehr und mehr in den Vordergrund rückte, trägt Pauschalbezeichnungen wie Land Art, Conceptual Art, Process Art. Gerade sie lassen sich jedoch auf die Intentionen Manzonis hin interpretieren. Innerhalb des gerade erst beginnenden geschichtlichen Prozesses, in den sein Werk gerät, erweist es sich immer wieder als gegenwartsbeziehbar und damit wirksam und aktuell. Manzoni ging es, wie gesagt, letztlich um die Authentizität des Realen. Genau darum geht es aber auch heute noch, und darum erscheinen uns die Arbeiten Manzonis, die diesen Zug besonders deutlich hervortreten lassen, auch am meisten der Beachtung wert. Was Anklänge an kompositorisches Bemühen zeigt, tritt dagegen in den Hintergrund. Es bleibt zwar für viele noch der einzige Zugang zu diesem Werk, weil es die Anwendung älterer ästhetischer Kategorien erlaubt, doch Gegenwartswirksamkeit lässt sich von dorther weniger ableiten.
Was zu Manzonis Lebzeiten selbst von Freunden seiner Kunst als Grenzabtastung, intellektuelle Spekulation oder unverbindliches Experiment mag eingestuft worden sein, erscheint heute als die treibende Kraft in diesem Werk. Wir nehmen aus diesem Grunde mit besonderer Faszination seine bereits 1959 entwickelte Idee der unendlichen Linie zur Kenntnis. Die magischen Sockel und vor allem der „Sockel der Welt“ rücken uns in diesem Zusammenhang zu Hauptwerken auf. Die Büchsen mit „merde d’artiste“ und aufessbare Ausstellungen mit Eiern gehören ebenso wie die Signierungen lebender Körper in die Reihe der Werke, die die Grenze zwischen Leben und Kunst in Frage stellen und angesichts unserer heutigen künstlerischen Situation als Vorwegnahmen interpretierbar geworden sind. Allerdings sollten wir uns davor hüten, Vorwegnahme als zeitlich früher vollzogene Erledigung zu verstehen. Manzonis Werk ist nicht ein Werk von heute, ist nicht Land Art, Conceptual Art oder Process Art. Seine Bedeutung für uns und in den Jahren nach seinem Tod resultiert aus den Anlagen seines Werks, die es für heute interpretationsfähig machen. In dem hohen, außergewöhnlich hohen Maß dieser Interpretationsfähigkeit liegen seine Relevanz und Wirksamkeit, seine Aktualität und Lebendigkeit.
Zur Ausstellung selbst noch ein Wort. Die Auswahl der Exponate wurde in Zusammenarbeit mit Herrn Leering, Direktor des Stedelijk van Abbemuseums in Eindhoven vorgenommen. Sie richtete sich in den quantitativen Proportionen nach der Hinterlassenschaft, nach dem überkommenen Werk selbst. Es wurde versucht, möglichst alle Äußerungen des Künstlers zu präsentieren entsprechend der Häufigkeit ihres Vorkommens oder ihrer besonderen Betontheit. Eigentlich nur in einem Fall, nämlich beim „socle du monde“ war das nicht möglich, weil auch eigentlich nicht beabsichtigt, denn dieser Sockel, der die Erdkugel trägt, ist in einem geschlossenen Innenraum und ohne direkte Erdberührung in sich widersinnig. Ein Großfoto in dieser Ausstellung vertritt die Arbeit und erinnert an sie. Wir haben die Exponate nach Gesichtspunkten äußerer formaler Zusammengehörigkeit gehängt. Irgendeine Chronologie kommt nicht zum Zuge. Sie ist auch eigentlich im Werk Manzonis gar nicht recht auszumachen. Wie schon gesagt, er hat nie das eine aufgegeben, sozusagen als frühere Entwicklungsstufe, um sich einem anderen, neuen Entwicklungsschritt zuzuwenden. Er hat sein Werk als Gesamtkomplex aufgefasst. Als solcher soll er auch hier dargeboten werden. Der Ballon mit Künstler-Atem ist neben dem genähten Bild, neben dem Watte- oder Lappenbild und gleichzeitig mit ihnen entstanden. Wenn auch das Werk der Bilder einen optisch größeren Raum einnimmt – das liegt in der Natur der Sache – so ist es doch eines Geistes mit Manzonis nicht-bildhaften Objekten, deren Minderzahl ebenfalls nur optisch, äußerlich ist. Die Ausstellung spiegelt diese optischen Proportionen, und sie versucht zugleich die Ganzheit dieses Werkes zu präsentieren. Dass wir diese Ausstellung in dieser Vollständigkeit aufbauen konnten, verdanken wir dem freundlichen Entgegenkommen vieler Leihgeber, insbesondere der Mutter des Künstlers, Contessa Manzoni, die den Großteil der ausgestellten Werke beisteuerte – dann auch den vielen anderen Leihgebern aus Italien, Deutschland, Belgien, Dänemark und den Niederlanden. Ihnen allen gilt der Dank des Museums. Besonderer Dank ist auch Herrn Leering zu sagen für seine organisatorische Arbeit an dieser Ausstellung und Herrn Dr. Kultermann für seine Bereitschaft, dem Ausstellungskatalog seine Deutung des Werkes von Manzoni beizugeben. Dank vorweg gilt auch Herrn Mack, seit nun rund drei Jahren Bürger hier unserer Stadt, der zu den künstlerischen Freunden Manzonis zählte, Leben und Werk Manzonis aus dem Mitstreiten, dem Mitarbeiten und Miterleben kennt. Er hat sich bereit erklärt, aus seiner persönlichen Erinnerung über Manzoni zu uns zu sprechen.
Heinz Mack über Piero Manzoni, Herbst 2008, Typoskript, Archiv Mack, Mönchengladbach
Die Rede Heinz Macks zur Eröffnung der Manzoni-Ausstellung 1969 hat sich nicht erhalten (siehe Anm. 5 in Text S. Rennert .) Bei dem hier Zitierten handelt es sich um einen aktuelleren Text, den Heinz Mack Susanne Rennert im Jahr 2017 freundlicherweise für die Recherchen zur Verfügung stellte.
Es ist nun ein halbes Jahrhundert her, dass ich Piero Manzoni zum ersten Mal begegnet bin. Wir waren nicht alleine, er war es, der mich in das Atelier von Fontana führte, der mir Enrico Castellani und Nanda Vigo vorstellte. Und als er nach Düsseldorf kam – das war meines Erachtens im Spätherbst 1959 – konnte ich ihn mit Otto Piene und Günther Uecker bekannt machen.
1960 hatten mich Piero Manzoni und Enrico Castellani eingeladen, in der von ihnen gegründeten Galerie Azimut meine Bilder und Lichtreliefs zu zeigen: es war meine erste Einzelausstellung in Italien.
Wir waren alle von dem gleichen Geist beseelt, dem Geist von ZERO, dessen Mission darin bestand, in der Kunst einen neuen Anfang zu machen. Das Sternbild, unter dem wir uns begegneten, hat in der Astronomie den Namen Azimut. Die Vermessung und Ortung im Nirgendwo des reinen Nichts, aus dem die ZERO-Bewegung hervorging, hatte in der Galleria Azimut eine mediterrane Meridianebene, von der aus sich der künstlerische Horizont bis Rom, Düsseldorf, Amsterdam und Paris erweitern sollte.
Von Anfang an hatte die ZERO-Bewegung eine im doppelten Sinne des Wortes grenzüberschreitende Strahlungsenergie, zunächst nur von einer sehr kleinen Zahl von Künstlern und deren Zeitgenossen bemerkt, sollte sie sich sehr bald in einem privilegierten, von einer Minderheit getragenen europäischen Kulturraum ausbreiten. Der Mann, welcher in dieser Mission von Ort zu Ort eilte, mit geradezu missionarischem Eifer, war Piero Manzoni, wir nannten ihn scherzhaft unseren Außenminister. Sein überaus lebhaftes Interesse, das von einer ebenfalls lebhaften Neugier erregt wurde, galt der Frage: ist die Tatsache, dass an verschiedenen Orten der Welt gleichzeitig und vollkommen unabhängig kreative Entdeckungen und Manifestationen stattfinden, welche eine innere, latente Verbindung zeigen, ein Indiz für ihre phänomenologische Identität, das heißt für eine gemeinsame, alles verbindende Idee.
Was verbindet am Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre Fontana mit ZERO, ZERO mit Fontana, Manzoni mit Yves Klein und Schoonhoven, Schoonhoven mit Castellani und Uecker, Nanda Vigo mit Mack, Mack mit Tinguely? Diese Fragen beginnen erst allmählich das Interesse unserer Kunsthistoriker zu finden, mit geradezu epochaler Verspätung. […]
Bedenkt man das malerische Erbe der jahrhundertealten, italienischen Hochkultur, in dem die Sinne in ihrer Sinnlichkeit sich selbst beglücken und feiern, dann wird die radikale Distanz, welche Manzoni gegenüber diesem Erbe antritt und einnimmt, eindrucksvoll bewusst.
Manzoni blendet die betörend sinnliche Strahlkraft der reinen, monochromen Farben aus, wie sie von seinem Antipoden Yves Klein postuliert und den ZERO-Künstlern manifestiert wurden; seine „Achromie“ wird zum spannungsvollen Gegenpol der „Farbmonochromie“, in der die apollinische Idee des Nichts sich noch dionysisch kleidete, damit noch am Ende einer malerischen Kultur Europas eine letzte Position einnehmend.
Manzonis Kunst präsentiert in der Mitte des 20. Jahrhunderts, am Ende einer „Moderne“ deren Verneinung, die – in einem dialektischen Sinne – in eine Bejahung sich transformiert, indem sie der Kunst Räume geöffnet hat, die vorher nicht betretbar waren. In diesen Räumen begegnen wir der Idee einer künstlerischen Askese von hohem Anspruch. […]
Piero Manzoni, Einige Realisationen, Einige Experimente, Einige Projekte, 1962, Text im Kassettenkatalog
Meine ersten „Achrome“ stammen aus dem Jahr 1957; sie bestehen aus mit Kaolin und Leim durchtränkter Leinwand. Im Jahre 1959 wurde der Raster der „Achrome“ mittels einer Nähmaschinennaht hergestellt. 1960 führte ich sie in Hydrophylmaterial aus und experimentierte dabei mit kobaltchloridgetränkten, die sich nach der jeweiligen Wetterlage farblich änderten. 1961 machte ich weiter mit Arbeiten aus Stroh und Plastik und mit einer Serie von Bildern, stets weiß, mit Wattebäuschen und danach mit haarigen Oberflächen, wie Wolken, und zwar in Natur- und Kunstfaser. Ich führte auch eine Skulptur in Kaninchenfell aus. 1959 machte ich eine Serie von 45 „corpi d´aria“ (pneumatische Skulpturen), die einen Maximaldurchmesser von 80 cm aufwiesen (Höhe der Basis 120 cm): Der Käufer konnte, falls er wünschte, außer der Hülle und der Basis (diese in einem dazugehörigen kleinen Futteral) auch meinen Atem erwerben, der in eben demselben Ballon aufbewahrt wurde.
Zu selben Zeit habe ich für einen Park eine Gruppe von „corpi d´aria“ (immer in sphärischer Gestalt) mit einem Durchmesser von rund 2,50 cm entworfen. Mittels einer Vorrichtung zur Luftkompression pulsierten sie, nicht synchronisiert, in einem sehr langsamen Atemrhythmus (Probeexemplare in Form kleiner Ballons 1959).
Ausgehend vom selben Prinzip habe ich außerdem für ein Gebäude eine pneumatisch pulsierende Decke und Wand vorgeschlagen. Darüber hinaus hatte ich für einen Park an ein kleines Gebüsch pneumatischer Zylinder gedacht, wie Säulen aufgereckt, die sich durch Windstöße vibrierend bewegen sollten. (Bei demselben Vorhaben wären andere, sehr hohe Säulen aus Stahl, durch Windeinwirkung zum Klingen gebracht worden.)
Für draußen habe ich eine Skulptur mit selbständigen Bewegungen ausgearbeitet (1959 bis 1960). Dieses mechanische Lebewesen sollte unabhängig sein und seine Nahrung aus der Natur selbst (Sonnenenergie) beziehen; des Nachts hätte es sich geschlossen und in sich selbst zurückgezogen. Tagsüber hätte es seinen Standort gewechselt, Töne erzeugt und Strahlen und Fühler ausgestreckt, um Energie zu suchen und Hindernisse zu umgehen. Obendrein hätte es die Fähigkeit gehabt, sich zu reproduzieren.
1960 habe ich ein altes Projekt realisiert: die erste Plastik im freien Raum. Eine Kugel wurde von einem Luftstrom in der Schwebe gehalten. Nach demselben Prinzip habe ich später an reinen Lichtkörpern („corpi di luce assoluti“) gearbeitet, die, ebenfalls sphärisch, von einem entsprechend gelenkten Luftstrom gehalten, sich wie ein Wirbel in sich selbst drehten und dadurch in der Vorstellung ein Volumen schufen.
Anfang 1959 habe ich meine ersten Linien ausgeführt, erst kurze, dann immer längere (19,11 m, 33 m, 63 m, 1000 m usw….); die bis heute längste mißt 7200 m (1960 Herning, Dänemark). Alle diese Linien werden in versiegelten Schatullen aufbewahrt. Ich möchte sogar eine weiße Linie entlang des gesamten Meridians von Greenwich ziehen!
1960 habe ich während zweier Manifestationen (Kopenhagen und Mailand) hartgekochte Eier in die Kunst eingeführt, indem ich sie mit meinem Fingerabdruck versah. Das Publikum konnte unmittelbar mit den Kunstwerken in Beziehung treten, indem es die ganze Ausstellung in 70 Minuten aufaß. Seit 1960 verkaufte ich die Abdrücke meines rechten und linken Daumens. 1959 habe ich daran gedacht, lebende Personen auszustellen (tote Personen wollte ich dagegen unter Verschluß bringen und in durchsichtigen Plastikblöcken konservieren). 1961 habe ich damit begonnen, Personen zu signieren und sie dann auszustellen. Diesen meinen Werken gebe ich ein Echtheitszeugnis mit. Noch im Januar 1961 habe ich den ersten magischen Sockel („base magica“) gebaut: Jede Person und jedes Objekt blieben solange Kunstwerk, als sie sich auf diesem Sockel befanden. Einen zweiten Sockel dieser Art habe ich in Kopenhagen aufgestellt. Auf einem dritten, aus Eisen und von großem Ausmaß , aufgestellt in einem Park in Herning (Dänemark 1962), stelle ich die Erde: Es ist der „Sockel der Welt“ („base del mondo“).
Im Mai 1961 habe ich 90 Dosen „Künstlerscheiße“ („merda d´artista“) produziert und verpackt (30 g pro Stück), die in natürlichem Zustand konserviert war (made in Italy). In einem voraufgehenden Plan dachte ich daran, Fläschchen mit „Künstlerblut“ („sangue d´artista“) herzustellen.
Von 1958 bis 1960 habe ich eine Serie von „tavole di accertamento“ (Sicherheitstafeln?) vorbereitet, von denen acht als Lithographien zu einer Mappe vereinigt, publiziert wurden (geographische Karten, Alphabete, Fingerabdrücke). Was die Musik betrifft, so habe ich 1961 zwei „Aphonien“ komponiert: die Aphonie Herning (für Orchester und Publikum), die Aphonie Mailand (für Herz und Atem). Zur Zeit habe ich ein elektronisch kontrolliertes Labyrinth in Arbeit, das zu psychologischen Tests und Gehirnwäschen dienen kann.
(Piero Manzoni, Mailand 1962, Übersetzung aus dem Italienischen: T. Sturm)
KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG




















KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG
MANZONI. Retrospektivausstellung, 25.11.1969–4.1.1970
Schachtel aus tiefgeformtem transparentem Kunststoff, 20,5 × 16,5 × 3 cm
Inhalt: Katalogheft
Katalogheft „Manzoni“ mit Text „Piero Manzoni“ von Udo Kultermann und „Einige Realisationen, einige Experimente, einige Projekte (1962)“ von Piero Manzoni, Bio- und Bibliografie, Verzeichnis der Werke mit 84 Katalognummern und Verzeichnis der Leihgeber, Text „Manzoni 1963 – 1969“ von J. Cladders, Dank und Impressum, 22 S/W‑Abb., 34 S.
Auf zahlreichen Seiten sind einzelne Fingerabdrücke reproduziert.
Auflage: 440 nummerierte Exemplare
Druck: H. Schlechtriem, Mönchengladbach
Kassette: Dr. Hahn Plastic KG, Wickrath
Preis in der Ausstellung: 10 DM
sr