DIE AUSSTELLUNGEN
UND KASSETTENKATALOGE
DES STÄDTISCHEN MUSEUMS
MÖNCHENGLADBACH
1967–1978

Digitales Archivprojekt
initiiert von Susanne Rennert und Susanne Titz

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GIULIO PAOLINI

GIULIO PAOLINI GIULIO PAOLINI, Museum Mönchengladbach 1977, Raum VI: Caleidoscopio (1976) u. Idem (IV) (1974), im Hintergrund: Giovane che guarda Lorenzo Lotto (1967) u. Dimostrazione (1974), Foto: Paul Maenz, Archiv Museum Abteiberg
Grundriss Obergeschoss neu
Einladungskarte GIULIO PAOLINI, 1977

GIULIO PAOLINI, 3.3. – 11.4.1977
Giulio Paolini (1940 Genua, lebt in Turin)

1. OG

Rekonstruktion und Text: Susanne Rennert 

Jeder, der zu einer Dynastie gehört (und der Künstler ist ein Musterbeispiel dafür), ist zugleich auf der Bühne und ist es nicht, ist von dieser Welt und ist es nicht, unabhängig von seiner tatsächlichen Anwesenheit oder Abwesenheit in einem bestimmten Augenblick und an jenem bestimmten Ort. Von entscheidender Bedeutung hingegen sind Augenblick und Ort für die Existenz des Werkes, das auf persönliche Daten, das heißt, auf den Autor, wird verzichten müssen, um Vollkommenheit zu erlangen.“1(Giulio Paolini, 1995)

Giulio Paolinis Ausstellung im Museum Mönchengladbach fand wenige Monate vor der documenta 6 in Kassel statt, an der Paolini ebenfalls teilnahm. Dort war er u.a. mit der großen Doppelplastik Mimesi (1976) vertreten, die in der Mönchengladbacher Ausstellung eine zentrale Position einnahm. Mimesi war das erste Werk, das die Museumsbesucher:innen beim Betreten der Ausstellung in Mönchengladbach erblickten. Paolini setzte die beiden lebensgroßen Frauenskulpturen, die aufgesockelt und leicht versetzt eng beieinanderstehen, prominent in Szene. Mimesi war auf dem oberen Treppenabsatz im ersten Obergeschoss positioniert. Im offenen Treppenhaus entstand dadurch eine Art poetischer Raum, der Energien verdichtete: Durch zwei offene Türen rechts und links breiteten sich diese Energien in die vier übrigen Ausstellungsräume des ersten Stocks aus. 

Mimesi (Nachahmung) vergegenwärtigt“ – so Hannelore Kersting – durch die Verdoppelung einer Nachbildung der antiken Statue Venus von Medici‘ das Motiv der Selbstreflektion und des Narzißmus sowie die Frage nach Urbild und Abbildung.“2 Die Venus von Medici aus dem 1. Jh. v. Chr. zählt zu den berühmtesten Plastiken abendländischer Kunst. Die Marmorstatue, die den Typus der Venus pudica“ (schamhafte Venus) verkörpert, steht als Idealbild für die Verbindung von Natur und Kultur, für Schönheit und Perfektion. Ihre Verdoppelung in Gips bildete sozusagen die verführerische und hoch ästhetische Einführung in eine Ausstellung, die einer Inszenierung ähnelte. Paolini, der vom Grafikdesign kam und ab 1969 auch bühnenbildnerisch tätig war, präsentierte dem Publikum eine Abfolge perfekt komponierter Räume. Sie adressierten Sinne und Intellekt gleichermaßen. Die Besucher:innen des Museums Mönchengladbach wurden gewissermaßen eingebunden in eine philosophische Konversation mit dem Künstler und seinem Werk. Diese Konversation kreiste zentral um Aspekte der Wahrnehmung und war disziplin‑, medien- und epochenübergreifend angelegt. Wie auf einer Bühne ließ Paolini hier verschiedene künstlerische Disziplinen, historische und zeitgenössiche Medien (Zeichnung, Fotografie, Malerei, Skulptur) und Zeitalter (Antike, Renaissance, Gegenwart) in Austausch und Kontakt treten. Insgesamt präsentierte er sechzehn Werke aus den Jahren 1961 bis 1976, die alle auch im Kassettenkatalog abgebildet sind. 

Die Kunstkritikerin Annelie Pohlen fasst in ihrem Text Kunst entsteht im Kopf. Die Bedeutung des denkformalen Ansatzes im Werk von Paolini“ zur Austellung in Mönchengladbach zusammen:

Daß die Veranschaulichung einer Idee in der Kunst der Form bedarf, wenn auch diese Form ihren Wert nicht aus der technischen Kompliziertheit bezieht, dafür mag das Werk des Italieners Giulio Paolini stehen, das zur Zeit vom Museum in Mönchengladbach vorgestellt wird. Johannes Cladders, sein Leiter, hat Paolinis Werk als denk-formales von Arbeiten gestalt-formaler Art abgesetzt. Paolini, Jahrgang 1940, seit 1960 mit bildender Kunst beschäftigt, ohne je einem Studium der bildenden Kunst gefolgt zu sein, hat von Anfang an dem ideellen Ansatz den Vorzug gegeben. 

Er fand ihn in der Hegelschen Philosophie: Jede Behauptung (These) gebiert eine Gegenbehauptung (Antithese); beide führen zur Synthese, die als neue These wieder zur Antithese drängt und so fort bis zu einem höchsten, in sich ruhenden Sein. Diese Dialektik findet sich in Paolinis Werk wieder, allerdings unter Ausschluß einer ausdrücklichen Synthese. 

Um den Wirklichkeitsgehalt des Begriffs, um die Wahrheit des Seins als solche ging es Hegel. Um den Wahrheitsgehalt von Kunst geht es Paolini. Da sie als Einheit nicht darstellbar ist, kann sie nur in ihren antithetischen Entäußerungen, aus dem Widerspruch erfahrbar werden. In der Kunst gibt es Bilder, Abbilder und Bildträger. Letztere – Rahmen, Leinwand – die Träger der Bildidee, werden von Paolini schon seit in den sechziger Jahren isoliert, in Vor- und Rückenansicht, gar ineinandergeschachtelt präsentiert und zum Feld jeder Bildidee befördert.

Wie wirklich ist Kunst?

In neueren Arbeiten tauchen Imitiationen italienischer Kunstschätze auf: Säulen, die Venus von Milo, Bild und Abbild, auf dem Kunstmarkt unter dem Gesichtspunkt der Echtheit geprüft, werden hier zu formalen Trägern einer Grundsatzfrage nach dem, was dem Anspruch auf Wahrheit genügen kann. Der unangetastete Wert der Tradition wird ebenso zum Prüfstein wie die bildlosen Bildträger der Gegenwart. Spiegelung, Umkehrung Positiv-Negativ sind die formal-sichtbaren Methoden, die den Wirklichkeitsgrad von Kunst, die Wahrheit schlechthin zur Diskussion stellen. Im Verzicht auf Antworten liegt der Wirklichkeitsgehalt dieses Werkes.“3

Giulio Paolini – Paul Maenz – Johannes Cladders 

Dear Dr. Cladders, 

just a few lines to let you know that I received the letter of Paul Maenz. I´m very glad to confirm my exhibition on march 3rd 1977, and I thank you very much for your proposal to show my works in such a[n] important museum. 

With best wishes
Giulio Paolini”4

Giulio Paolini lebte und arbeitete (damals wie heute) in Turin. Ausstellung und Kassettenkatalog enstanden in enger Zusammenarbeit mit Paul Maenz, dem Kölner Galeristen des Künstlers. Anfang 1977 legte Maenz mit Paolini und seinem italienischen Galeristen Marconi in Mailand alle notwendigen Informationen zur Ausstellung präzise fest. Unmittelbar danach erhielt Cladders von Maenz die schriftliche Dokumentation dieser Gespräche, aus der nachfolgend zitiert wird: 

Kassette

Sämtliche Fotos wurden übergeben. Paolini wünscht sie faksimiliert in die Box einzulegen. Die Box soll so flach wie möglich sein und aus möglichst starkem, weißem Karton bestehen. In die Innenseite der Deckel wird je eine Abbildung eingedruckt (wie auf Entwurf angegeben). Alle weiteren Einzelheiten durch P. Maenz (z.B. Text Dr. Cladders, Zusammenstellung usw.)

Marconi wünscht evtl. 150 Exemplare zu übernehmen, muß aber über die Kosten unterrichtet werden.

Aufbau

Paolini kommt am 1. März nach Mönchengladbach, um zu helfen (bleibt bis zur Eröffnung). Er bittet um die Anfertigung von zwei Sockeln für die Venus-Statuen (‚Mimesi‘): 60 cm hoch, 50 cm breit, 50 cm tief; aus ca 2 cm starkem Preßspan; weiß gestrichen. 

Exponate

siehe separate Liste (mit Versicherungswerten).“5

Mimesi

Parallel zur documenta 6 veranstaltete der Mannheimer Kunstverein im Sommer 1977 eine Ausstellung mit Werken verschiedener documenta-Teilnehmer – darunter auch Paolini.6 13 der (ingesamt 16) Mönchengladbacher Arbeiten waren auch in Mannheim zu sehen. Zur Ausstellung gab Paul Maenz gemeinsam mit Gerd de Vries im Auftrag des Mannheimer Kunstvereins einen Katalog heraus, der im Hinblick auf die Die Entwicklung des Werkes seit 1960“ erhellend ist.7 Dort schreibt Maenz über Mimesi:

Mimesis, griechisch für Nachahmung, bezeichnet bei Platon das ontologische Abhängigkeitsverhältnis der konkreten Gegenstände von Ideen: nur die Ideen sind im eigentlichen Sinne wirklich, und die Dinge sind nur insofern erkennbar, als sie Abbilder der Ideen sind. Bei Aristoteles hingegen versteht sich Mimesis nicht einseitig als Nachahmung, sondern zugleich als antizipatorische Darstellung bzw. Präsentation idealer Situationen, Lebensweisen und ‑haltungen.

Paolinis Kunst reflektiert Kunst als geistigen Entwurf und dessen historische Dimension. Aus dieser Dimension versucht sie ihre eigene Identität abzuleiten. Immer läßt sich ein Bezug entdecken: jedes Werk hat ein Gegenüber, an dem es sich zu verifizieren sucht. So sind Raum und Zeit Koordinaten in Paolinis Beschäftigung mit seinem zentralen Thema, dem Sehen. Entsprechende Bedeutung gewann in seinem Denken die Idee der Perspektive; räumlich, zeitlich und mental. In ihr stellt sich nicht zuletzt schlüssig eben jener Weltentwurf dar, der dem abendländischen Kulturbegriff bis heute zugrunde liegt; durch die Entwicklung der Perspektive gelangte die Welt der Kunst erstmals in ein prüfbares Verhältnis zur Welt der Dinge. In ihr spiegelt sich die ganze Idee individuellen Bewußtseins, indem der einzelne aus seiner kreatürlichen Eingebundenheit heraustritt und sich der Welt gegenüber‘ sieht. Damit verbunden ist allerdings die Erkenntnis, daß die – perspektivisch gesehene – Ordnung der Dinge im Raum‘ niemals eine absolute, sondern immer eine an den Punkt gebundene ist; niemals können zwei Betrachter zur selben Zeit dasselbe sehen. Das heißt, das Hier und Jetzt, die individuelle Sicht einer Situation ist im letzten nur mitteilbar als Darstellung, während der Moment selbst bereits in der fliehenden Zeit versunken ist. 

Mimesi, Paolinis bisher letzte große Werkgruppe, ist u.a. sein vielleicht stringentester Kommentar zu diesem Sachverhalt – und eigentlich ein Versuch, ihn aufzuheben: Ansicht und Darstellung begegnen sich als Identisches in andauernder Gleichzeitigkeit.“8

Quellenangaben / Anmerkungen

Johannes Cladders, Rede zur Eröffnung der Ausstellung und Johannes Cladders, Text Kassettenkatalog

Die Ausstellung, die wir heute eröffnen – und die im Obergeschoss unseres Museums aufgebaut ist –‚ gilt dem Werk von Giulio Paolini. Dieses Werk ist in seiner Heimat Italien weit bekannt und viel diskutiert, bei uns in Deutschland jedoch noch nicht allgemein ins Bewusstsein des kunstinteressierten Publikums gedrungen. Die – vom Umfang her – bescheidene Ausstellung möchte da einerseits ein wenig nachhelfen, andererseits aber auch einen Ausstellungszyklus fortsetzen, der in diesem Hause der Frage nach der Kunst, die sich selbst zum Thema erhebt, bereits mehrere Veranstaltungen widmete. Zu nennen wären hier die beiden Ausstellungen von Daniel Buren – die erste 1971, die zweite 1975 –‚ die Ausstellung von Braco Dimitrijević 1975 und die von Joel Fisher 1975. Bei den genannten Ausstellungen ging es immer um bestimmte Aspekte von Kunst, die zum speziellen Thema der Kunst selbst erhoben wurden. Kunst beschäftigte sich in diesen Ausstellungen mit Kunst, nicht etwa vordergründig mit Problemen rein formaler Natur oder außerhalb der Kunst liegender Inhalte.

Es ist natürlich zu bezweifeln, ob es überhaupt Kunst jenseits des Themas Kunst gibt. Zumindest lässt sich nach heutiger Einsicht der Dualismus von „Inhalt und Form“ nicht mehr ernsthaft aufrecht erhalten. Ein Werk der Kunst ist nicht spaltbar. Soviel Mitteilungen Kunst über sich selbst hinaus auch geben mag: eine Aussage über sich selbst kann sie dabei nie unterdrücken. Kunst definiert Kunst. Nur sie sagt und bestimmt, was Kunst ist, weil sie sich selbst in jedem Werk praktiziert, weil sie in jedem Werk manifest, konkrete Wirklichkeit wird. In diesem allgemeinen Sinn beschäftigt sich Kunst immer und zwangsläufig mit sich selbst.

So auch die Kunst von Giulio Paolini. Aber nicht nur so, sondern in speziellerer Weise. Er zählt zu den Künstlern, die im Besonderen und expressis verbis Kunst durch Kunst definieren, die Kunst zum Thema ihrer Kunst genommen haben. Er kann sich auf eine Ahnenkette berufen, die für das 20. Jahrhundert spätestens bei Marcel Duchamp einsetzt. Obwohl für jeden Interpreten dieser Name entweder zur Pflichtübung oder zum Alptraum geworden ist, er bleibt zu nennen, nicht nur, weil sich die Interpreten-Geister an ihm geschieden haben oder immer noch scheiden, sondern weil die Kunst selbst sich noch fortwährend – nach über 50 Jahren – an ihm reibt. Das reicht von Joseph Beuys‘ Aktion und Manifestation „Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet“ bis zur Annahme Duchamps als Vaterfigur durch den Nouveau Réalisme eines Tinguely, Arman und Spoerri etwa und bis zur vernichtenden Kritik durch Daniel Buren. Man muss Duchamp in seine Schranken weisen – wie Beuys – ‚ sich auf sein Ross setzen – wie die Nouveau Réalistes und die Legion ihrer Nachfolger – oder bewusst gegen ihn antreten – wie Einzelfechter des Typs Buren. Es führt kein Weg an Duchamp vorbei: mit ihm, gegen ihn oder in relativierender Beschwichtigung.

Es ist hier nicht Anlass, Ort und Zeit, über Duchamp zu referieren. Doch nur noch dies: Duchamps Stil war nicht gestalt-formaler sondern denk-formaler Art. Ohne hier auf das Verhältnis Duchamp – Paolini speziell einzugehen; auch Paolinis Werk ist stilistisch denk-formaler Natur. Diese Natur – und nur diese – durchzieht kontinuierlich sein Werk und macht jede Arbeit als die seine erkennbar.

Denn was ließe sich bestenfalls bei Paolini unter einen gemeinsamen Erscheinungsnenner bringen? Doch nur das formal Nichtssagende vorgefundener und aufgegriffener Gegenstände und Materialien: Skulpturen und Bilder aus der Geschichte der Kunst; materiale Existenzweisen von Kunst wie Vorder- und Rückseiten von Gemälden; spiegelbildliche Fortsetzungen und Umkehrungen von Säulen, Anhäufungen von Notenständern, bestückt mit Informationen, die keine Noten sind. Das Gestalt-Formale bei Paolini gibt nichts Durchgehendes her, an dem sein Werk erkennbar wäre. Der rote Faden in seinem Werk ist nicht eine Gestaltform, sie ist eine Denkform.

Paolini denkt und verfährt dialektisch. Ganz traditionell nach der Hegelschen Formel: Thesis, Antithesis. Doch die Synthesis spart er aus wie etwa der poetische Vergleich – die Metapher – das tertium comparationis. Diese Synthesis, in der sich – wieder Hegel folgend – Thesis und Antithesis in einer höheren Einheit gegenseitig aufheben, stellt sich von selbst ein. Sie annulliert ihre sie konstituierenden Komponenten und bleibt dabei zurück als das, was man die Kunst in der Kunst nennen könnte, als etwas, was jenseits des Konkreten und material Vorhandenen gesehen und erkannt werden kann. Es bleiben Anschauung und Anschaulichkeit zurück.

Das denk-formale Vorgehen von Paolini ist ebenso einfach, einsichtig und durchgängig, wie man es auch von gestalt-formalen Stilen her kennt Die formalen Machweisen von Pointilismus, Kubismus, Konstruktivismus oder Action Painting sind ja im Grunde so einfach, einsichtig und durchgängig, dass sie sich mit wenigen Worten vorstellen und charakterisieren lassen. Allerdings nicht so ihre jeweiligen Ergebnisse, nicht so die Produkte solchen Vorgehens. Sie stellen sich als äußerst komplexe Bündel dar, die sich voll und letztlich nur dem Auge, dem Sehen, der Anschauung erschließen. Und sie erschließen sich nur sehr bedingt dem analysierenden Wort. Nicht anders bei Paolini, und das, obwohl gerade sein Werk wesentlich vom Wort, vom begrifflichen Denken lebt, eben vom Einsatz denk-formaler Vorgehens- und Machweisen.

Er greift in seiner Machweise immer wieder zu den einfachen Mitteln Gegenüberstellung, Umkehrung, Spiegelbildlichkeit. Dieses Spiel kehrt stets wieder: links – rechts, positiv – negativ, Vorderseite – Rückseite, Dargestelltes – Darstellung. Er lässt jeweils ein Gegebenes umschlagen. Dabei bleibt allerdings der Erstanspruch zwischen dem Gegebenen und seinem Umschlag, das Recht des Originären offen. Negativ ist nicht Folge von positiv, Rückseite nicht Folge von Vorderseite oder Darstellung nicht Folge von Dargestelltem.

Man ist an das Spiel mit der uralten Frage erinnert: was denn eher war, das Ei oder das Huhn. Die einfachsten Fragen stellen sich ja häufig als die schwierigsten heraus. Einfache Fragen in diesem Zusammenhang meint Fragen grundsätzlicher Natur, existenzieller Natur. Befragt sind bei Paolini die Wirklichkeitsebenen von Kunst. Ihre Wirklichkeit und damit letztlich ihre Wahrheit steht zur Diskussion. Die Frage wird bei ihm, wie in dem bekannten Beispiel mit dem Ei und dem Huhn, in einer dialektischen Gegenüberstellung vorgetragen. Aber aus der Gegenüberstellung Ei hier und Huhn dort ergibt sich keine Antwort im Sinne von ja oder nein. Sondern zwischen den Worten „Ei“ und „Huhn“ schimmert eben – selbst noch bei diesem nahezu lächerlich einfachen Beispiel – das Wort „Schöpfung“ unausgesprochen mit durch. Und zwar nicht nur als die hinweisende Randbemerkung „darum geht es“. Nein, Schöpfung“ scheint durch als das Komplexe, das zwar in vieler Hinsicht analysierbar ist, aber letztlich nicht auflösbar. Sie tritt uns in ihrer Wirklichkeit und Wahrheit als ein Gegebenes, So-Seiendes gegenüber. Und eben das geschieht vergleichsweise auch, wenn Paolini immer wieder Gegenüberstellungen vornimmt. Sie beziehen keine Stellungnahmen für oder wider die Vorderseite oder die Rückseite, links oder rechts, positiv oder negativ, Dargestelltes oder Darstellung, Spiegelung oder Gespiegeltes.

Sondern zwischen den Polen schimmert die Komplexität von Kunst durch, ihre Wirklichkeit, die eben die ihr eigene Wahrheit ist. Paolini lässt die Diskussion sich im Kreis drehen und belegt dem anschauenden Auge, dass letztlich die Worte Kunst und Wahrheit eine Tautologie sind. Paolini betreibt ein Wechselspiel, das diesem Wortspiel gleicht: Sehen und Einsehen.


Johannes Cladders, Text Kassettenkatalog

Kunst definiert Kunst. In diesem allgemeinem Sinn beschäftigt sich Kunst immer und zwangsläufig mit sich selbst. Giulio Paolini zählt zu den Künstlern, die im besonderen und expressis verbis Kunst durch Kunst definieren, die Kunst zum Thema ihrer Kunst genommen haben. Sein Stil ist nicht gestalt-formaler sondern denk-formaler Art. Als solcher durchzieht er kontinuierlich sein Werk und machte jede Arbeit als die seine erkennbar.

Paolini denkt und verfährt dialektisch. Thesis, Antithesis: die Synthesis spart er aus wie der poetische Vergleich das tertium comparationis. Sie stellt sich von selbst ein, annuliert ihre sie konstituierenden Komponenten und bleibt zurück als Kunst: als Anschauung, als etwas, was jenseits des Konkreten, material Vorhandenen gesehen und erkannt werden kann.

Das denk-formale Vorgehen Paolinis ist ebenso einfach, einsichtig und durchgängig wie das gestalt-formaler Stile auch: Die Machweisen von Pointilismus, Kubismus, Konstruktivismus, oder Action Painting lassen sich jeweils mit wenigen Worten vorstellen. Nicht so allerdings ihre jeweiligen Ergebnisse. Sie erschließen sich dem Sehen und nur sehr bedingt dem analysierenden Wort. So auch bei Paolini.

Er greift in seiner Machweise immer wieder zur Gegenüberstellung, zur Umkehrung, zur Spiegelbildlichkeit: links-rechts, positiv-negativ, Vorderseite-Rückseite, Dargestelltes-Darstellung. Er läßt jeweils ein Gegebenes umschlagen, wobei das Recht des Ersten, des Originären offenbleibt.

Es ist wie das alte Fragespiel nach dem, was eher war, das Ei oder das Huhn. Die einfachsten Fragen sind immer noch die schwierigsten. Befragt sind bei Paolini die Wirklichkeitsebenen von Kunst. Ihre Wirklichkeit und somit ihre Wahrheit steht zur Diskussion. Sie wird in dialektischem Vorgehen untersucht und das Ergebnis erscheint als Kunst. Die Diskussion dreht sich im Kreis und belegt dem Auge, daß die Worte Kunst und Wahrheit eine Tautologie sind.

Sehen und Einsehen: Paolini betreibt ein Wechselspiel.

Diese Kassette wurde von Paolini konzipiert. Sie enthält die Faksimile-Fotos der ausgestellten Arbeiten und auf den Innenseiten der Deckel die Negative von Ober- und Unterseite des Inhalts. Sie ist eine Arbeit von Paolini.

Mein Text ist – wie mit Paolini abgesprochen – auf die umgebende Hülle gedruckt. Denn eine – jede – Interpretation rankt sich um ein Werk. Sie ist nicht identisch mit ihm und kann sich erst recht nicht an seine Stelle setzen. Dies zu visualisieren, gehört in die Arbeit von Paolini. Es ist zu akzeptieren, ist Bestandteil der Interpretation.

KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG

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KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG
GIULIO PAOLINI, 3.3.–11.4.1977

Schachtel aus weißem Karton, schwarzer Aufdruck auf Deckel, Boden (außen) und Seite, geklammert, 20,3 × 15,8 × 2 cm 

Auf Vorder- und Rückseite der Schachtel: Titel, fortlaufender Text von J. Cladders und Impressum 

Inhalt: 16 Foto-Tafeln auf Karton mit Abb. der ausgestellten Werke in chronologischer Reihenfolge, Werkangaben in der Handschrift des Künstlers auf der Rückseite. Auf den Innenseiten der Kassette die Abb. der Negative von Ober- und Unterseite des Inhalts.

Auflage: 550 nummerierte Exemplare

Preis in der Ausstellung: 10 DM

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Verzeichnis der ausgestellten Werke

Verzeichnis der ausgestellten Werke

Das Verzeichnis folgt der Liste Galerie Paul Maenz, n.d. (1977), Typoskript mit handschriftlichen Notizen, Archiv Museum Abteiberg; hier ergänzt durch Angaben aus dem Kassettenkatalog PAOLINI.

1 Apoteosi di Omero, 1970-71, 32 Fotos auf Ständern

2 Dimostrazione, 1974, 2 Bilder, 2 Staffeleien

3 Untitled, 35 x 50 cm

4 Untitled, 40 x 80 cm

5 2200/H, 1965, 125 x 90 cm

6 Diaframma 8, 1965, 80 x 90 cm (6 Einzelstücke)

7 Capitemi, 1966, 90 x 90 x 90 cm

8 Giovane che guarda Lorenzo Lotto, 1967, 30 x 24 cm

9 La Doublure, 1972-73, 40 x 60 cm

10 Untitled, 44,5 x 23 cm

11 D 867, 1967, 80 x 90 cm

12 Ipotesi per una mostra, 1963, 30 x 50 cm
1-12: Leihgeber: Galerie Marconi, Mailand

13 Mimesi (Venus), 1976, Gips, 163 x 50 x 44 cm

14 Caleidoscopio, 1976, 70 x 120 x 95 cm

15 IDEM (IV), 1974, 72 Metallplättchen
13–15: Leihgeber: Galerie Maenz, Köln

16 Mimesi (Ingres), 1975, zwei zusammengehörige Bilder, je 22 x 26 cm
Leihgeber: Galerie Annemarie Verna, Zürich

Kassettenkatalog

Einladungskarte / Plakat / Druckerzeugnisse

Archiv Fotografien

Archiv Dokumente / Korrespondenz

Archiv Presse

Berichte / Rezensionen / Kommentare

cj [Claudia Junkers], Wirklichkeit und Wahrheit. Paolinis Werk im Städt. Museum, in: Westdeutsche Zeitung, 9.3.1977
Amine Haase, Giulio Paolini in Mönchengladbach. Kunst beäugt sich selbst, in: Rheinische Post, 22.3.1977
Wolfgang Stauch von Quitzow, Kunst durch Kunst karikiert. Giulio Paolinis erste Einzelausstellung in Mönchengladbach, in: Trierischer Volksfreund, 5.4.1977
Annelie Pohlen, Kunst entsteht im Kopf, in: Vorwärts, Nr. 14, 7.4.1977