DIE AUSSTELLUNGEN
UND KASSETTENKATALOGE
DES STÄDTISCHEN MUSEUMS
MÖNCHENGLADBACH
1967–1978

Digitales Archivprojekt
initiiert von Susanne Rennert und Susanne Titz

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JAMES LEE BYARS

JAMES LEE BYARS JAMES LEE BYARS, Eröffnung, Museum Mönchengladbach 1977, James Lee Byars und Reiner Speck, Foto: Eckhard Goldberg, Archiv Museum Abteiberg
Grundriss Erdgeschoss Obergeschoss 2 neu
James Lee Byars Einladungskarte (Vorderseite), 1977

JAMES LEE BYARS, 21.4. – 22.5.1977
James Lee Byars (1932 Detroit/​USA – 1997 Kairo/​Ägypten)

EG/ Hochparterre und 1. OG, alle Räume, Treppenhaus

Performance im Garten am Eröffnungsabend

Rekonstruktion und Text: Susanne Rennert 

Die Rekonstruktion des Geschehens rund um die Ausstellung von James Lee Byars bleibt aufgrund der komplizierten Dokumentenlage lückenhaft. Doch lässt sie sich grundsätzlich als ephemeres Gesamtkunstwerk und als ein vom Künstler initiiertes Ereignis im Hier und Jetzt am besten fassen. 

Zum Vorlauf: James Lee Byars hatte im April 1969 sein europäisches Debüt in der Antwerpener Galerie Wide White Space gegeben und im Mai die spektakuläre Gemeinschaftsaktion A Pink Silk Airplane vor der Düsseldorfer Kunstakademie inszeniert: als solidarische Geste mit den rebellierenden Student:innen der LIDL-Gruppe (um Jörg Immendorff und Chris Reinecke) und Joseph Beuys. Im Rheinland wurde der US-amerikanische Künstler ab 1971 regelmäßig von der Galerie Michael Werner in Köln vertreten, die in die Mönchengladbacher Ausstellung involviert war.1 1972 nahm er an der documenta 5 teil, bei der Johannes Cladders – als einer der von Harald Szeemann eingeladenen Gastkuratoren – die Sektion Individuelle Mythologien“ kuratierte.


Eröffnungsveranstaltung, Fotos von Eckhard Goldberg

Dass Cladders und Byars sich kannten, lange bevor 1977 die Ausstellung im Museum Mönchengladbach realisiert wurde, geht aus der Korrespondenz im Archiv des Museum Abteiberg hervor. We did the exhibition after a long time of more or less intensive contacts”2 hält Johannes Cladders rückblickend in einem Brief an den US-amerikanischen Künstler fest. Die Korrespondenz belegt auch, dass schon 1975 die Idee einer Byars-Jahresgabe für Mönchengladbach im Raum stand3 – die erst 1981 mit dem Buchobjekt SEE IT IS THE GIFT4 realisiert wurde – und 1976 ein Kooperationsprojekt mit der Universität Essen geplant war. Dieses wurde aber nicht weiter verfolgt.5


Konkreten Bezug auf die geplante Ausstellung, den Kassettenkatalog und eine mögliche Platzierung der Werke nimmt Cladders in seinem detaillierten Brief vom 22. März 1977. In diesem Schreiben ist auch jene Passage interessant, in welcher der Museumsdirektor der Idee des Künstlers eine (ungewohnt deutliche) Absage erteilte, mit seiner Präsentation auch in den öffentlichen Raum ausgreifen zu wollen,. Cladders schreibt an Byars: 1. I agree in general to your proposals and ideas. […] 3. Concerning the exhibition: I see that you have been very busy to make the pieces. On the upper (second) floor we have 4 rooms. It will depend on the form of installation if we can show all the pieces you propose. But I hope we can do. […] To give 3 golden benches outside the museum is impossible. I don´t have the benches and I have only one guardian who is not able to take them every day out of and back into the museum. And besides: the pavement on the other side if the road belongs to the shops there (they will not allow to put benches in that place), and I´m sure, that nobody would take place on that benches. Therefore, forget it. Another point is the white string outside the museum. If it makes sense to do it without the benches we can talk about it.”6

Im selben Brief nimmt Cladders Bezug auf zwei Briefe des Künstlers, die offenbar wichtige Informationen zur Ausstellungskonzeption enthielten7, aber vermutlich verloren sind. Ganz generell ist die Dokumentenlage zur Ausstellung inkonsistent. Im Archiv des Museum Abteiberg existieren zwei inkomparable Werklisten.8 Eine davon ist die Versicherungsliste, die insgesamt 22 Objekte aus Papier, Seidenstoffen und Stein sowie ein Tonband anführt. Mit Ausnahme des Einseitenbuchs von 1972 sind alle Objekte auf 1976 und 1977 datiert. Viele Werke wurden offenbar speziell für die Ausstellung produziert.9


Aus dem Archiv

Die Zuordnung von Werken zu speziellen Räumen ist nicht in allen Fällen möglich: Die Austellungsfotos von Eckhard Goldberg und Ruth Kaiser vermitteln nurmehr einen ausschnitthaften Einblick in die Präsentation. Sie zeigen, dass Werke wie The Philosophical Flag und Der Teufel als raumgreifende Installationen bühnenhaft in Szene gesetzt wurden. Und auch, dass Objekte wie die Sandsteinkugel The Lucky Stone oder die 100 Einseitenbücher aus Papier in den museumseigenen Vitrinen lagen. So wie vermutlich auch die übrigen Varianten der Bücher von James Lee Byars, welche die Versicherungsliste dokumentiert: Das Einseitenbuch, Einseitenbuch mit imaginärem Einband und 50 Seidenbücher. (Johannes Cladders: „[…] ich kenne wenige Künstler, die in einem solchen Maße wie er buch-fixiert‘ sind.“10)

Interessant ist, dass neben den Objekten Sound in die Ausstellung integriert gewesen sein muss. Wie Peter Terkatz erinnert, sei ein Tonband mit der flüsternden Stimme des Künstlers über Lautsprecher abgespielt worden und in allen Museumsräumen zu hören gewesen sein. 11

Presse

Wie lässt sich die Ausstellung anhand der Presseberichte vergegenwärtigen? 

Die Westdeutsche Zeitung berichtet: Zu sehen sind derzeit im Städtischen Museum Reihen ausgelegter Einseitenbücher, bedruckt mit winziger Goldinschrift an der Grenze der Lesbarkeit. Ein roter Faden hängt vom Glasfirst des Hauses bis ins Parterre hinunter. Rote Seidenschlangen liegen in Haufen und gelegten Schlingen auf dem Parkett. Im Hauptraum ist die schwarze Flagge‘ mit den Maßen 3,33 Meter mal 33 Meter ausgebreitet. Sie wirkt wie der kunstvoll in Falten hingeworfene Mantel eines Zauberers. Die Inschrift TH FI TO IN PH‘ bedeutet: The first totally interrogative philosophy”, die erste allumfassend fragende Philosophie.12

(Bei den roten Seidenschlangen“ handelte es sich um das Werk Der Teufel bzw. The Red Devil, das der Kölner Sammler Reiner Speck im Anschluss an die Ausstellung erwarb13 und dass viele Jahre später im Rahmen des Ankaufs der Sammlung Speck durch die Gebrüder Viehof nach Mönchengladbach zurückkehrte.)

In der Süddeutschen Zeitung skizziert Jürgen Morschel das Gesehene: In einer Vitrine liegt ein kleines weißes Stäbchen, auf das TH FI TO IN PH geschrieben ist. Titel des Exponats: Lies TH FI TO IN PH und es betrifft Dich.‘ […] Ein prächtig rotes, seidig glänzendes Seil ist auf dem Boden zu einer großen Figur ausgerollt, an der man die Andeutungen von Kopf, Leib, Armen, Füßen erkennen kann; im nächsten Raum hängt ein rundes weißes, einmal gefaltetes Seidentuch an der Wand: gegenüber ein perforiertes rundes Tuch aus rosa Seide. Das hat durchaus ästhetischen Reiz, doch spürt man wiederum sofort, daß man sich hier eigentlich auf mehr einläßt als auf Farbe und Form, daß die Dinge einen auf ihre religiöse, mystische, philosophische Bedeutung zu verpflichten suchen: Die rote Figur ist Der Teufel‘, das Weiß steht für das Göttliche (‚Der vorgetäuschte Gott‘); das rosafarbene Tuch verweist auf fernöstliche Philosophie. Und wie die Farben haben auch die Formen Symbolcharakter: Eine Steinkugel hat den Titel Der glückliche Stein‘ – das Runde kehrt stets als Symbol für Glück und Vollkommenheit wieder. So verschiedenartig die Hervorbringungen Byars´ auch sind, so stößt man doch immer wieder auf einen grundsätzlichen Zusammenhang: in einem großen Glasrahmen befindet sich ein kleines Blatt Papier, in dessen Mitte zwei winzige Pünktchen stehen; daß es sich bei diesen Pünktchen um die Buchstaben GR (Abbreviatur für GREAT) handelt, erfährt man erst aus dem Titel THE PLAY OF GREAT (GR)‘: Man kann nicht sehen was man nicht (er-)kennt – und das Kennen der Bedeutung legt einen dann fest, die Dinge nur auf eine bestimmte Weise zu sehen.“ Und zu The Philosophical Flag, die damals vom Antwerpener Ausstellungsforum ICC für die Ausstellung entliehen wurde, schreibt Morschel: Im Hauptraum des Museums hat Byars eine 3 x 33 Meter große schwarze Fahne entfaltet, in die wiederum die Buchstaben TH FI TO IN PH perforiert sind – deren Rätselhaftigkeit sich auflöst als Abbreviatur für THE FIRST TOTALLY INTERROGATIVE PHILOSOPHY (die erste allumfassend fragende Philosophie): Motto einer Kunst‘, die weniger einem Inhalt Form gibt, als formalen Gegebenheiten Bedeutung zuordnet und das Sehen reflektiert als Verwirklichung dieser Bedeutung in ihrer Erkenntnis durch den Betrachter; das führt wieder zu jenem unausweichlichen es betrifft‘ Dich, das der eingangs zitierte Werktitel behauptet.“14

Die universale Dimension von TH FI TO IN PH“, die zen-buddhistische und westliche Suche nach Erleuchtung, Erkenntnis, Bewusstseinserweiterung und intellektueller Teilhabe verbindet, manifestiert sich auch im Kassettenkatalog BYARS: Die hohe goldfarbene Schachtel ist gefüllt mit einem zusammengeknüllten Bogen aus schwarzem Seidenpapier, darin verborgen der goldfarbene Aufdruck TH FI IN PH“. Der Kassettenkatalog wurde in der Ausstellung für 6 DM verkauft und war sofort vergriffen.15 Die Papiere zerknüllte der Künstler damals offenbar selbst.16



Eröffnungsperformance

Am Eröffnungsabend hatte im Anschluss an die Einführungsrede des Museumsdirektors eine Performance des Künstlers stattgefunden. Dazu bemerkte Claudia Junkers, die Rezensentin der Westdeutschen Zeitung: Byars, der in Detroit Kunst, Philosophie und Soziologie studierte und lange in Japan lebte, präsentierte sich zur Mönchengladbacher Ausstellungseröffnung in der Attitüde des Magiers mit schwarzseidenem Zylinder. Das von Byars inszenierte Happening charakterisierte den Stil des Künstlers: Byars bat die Ausstellungsbesucher in den nächtlichen Garten der Museumsvilla. Als der letzte Gast das Nadelöhr‘ der Verandatür passiert hatte, trat der große Magier‘ heraus in den Garten, um den erwartungsvollen Zuschauern zu bedeuten: Das war’s! Kommt wieder rein! Thank You!“17

Offensichtlich erlebte die Berichterstatterin hier aber nur den letzten Teil der Performance. Denn einer der Anwesenden erinnert, dass der Künstler im Garten den Satz That is the miracle play“ gesprochen habe.18 Hier liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei der Performance um eine Darbietung des Miracle Play handelte, das die Versicherungsliste unter der Nr. 14 anführt.

JAMES LEE BYARS, Museum Mönchengladbach 1977, im Garten während der Eröffnungsperformance, Foto: Eckhard Goldberg, Archiv Museum Abteiberg
JAMES LEE BYARS, Museum Mönchengladbach 1977, im Garten während der Eröffnungsperformance, Foto: Eckhard Goldberg, Archiv Museum Abteiberg
JAMES LEE BYARS, Museum Mönchengladbach 1977, im Garten während der Eröffnungsperformance, Foto: Eckhard Goldberg, Archiv Museum Abteiberg
JAMES LEE BYARS, Eröffnung, Museum Mönchengladbach 1977, James Lee Byars im Garten, Foto: Eckhard Goldberg , Archiv Museum Abteiberg
JAMES LEE BYARS, Eröffnung, Museum Mönchengladbach 1977, James Lee Byars im Garten, Foto: Eckhard Goldberg , Archiv Museum Abteiberg
JAMES LEE BYARS, Eröffnung, Museum Mönchengladbach 1977, James Lee Byars im Garten, Foto: Eckhard Goldberg , Archiv Museum Abteiberg

Quellenangaben / Anmerkungen

Johannes Cladders, Rede zur Eröffnung der Ausstellung

Mit Bedacht wähle ich das Wort „geistert“, wenn ich sage, dass James Lee Byars seit Jahren durch das „geistert“, was man die „Kunstszene“ zu nennen pflegt. „Geistern“ in seiner doppel- und mehrsinnigen Bedeutung, die sowohl die verschiedensten Formen örtlicher wie zeitlicher Unstetigkeit einbegreift als auch die unterschiedlichen Zustände eines Entrücktseins von der handgreiflich realen Welt.

Zunächst zum einen, das mit der Kunst direkt nichts zu tun hat: Byars trifft man auf vielen Plätzen, wo sich die Künstler der Gegenwart ein Stelldichein geben. In Amerika – wo er herkommt – und in Europa – wo er sich oft und lange aufhält; in den Zentren, die für Kunst und Künstler die Welt bedeuten; bei den Veranstaltungen, die, wie etwa die documenta in Kassel, internationale Schaufenster der Kunst sind. Man findet ihn dort wie auch in den stilleren und privateren Zirkeln der Mäzene und Sammler und schließlich auch in den Spalten der Kunstpublikationen.

„Man kennt ihn also“, wie man so sagt, was allerdings nicht gleichbedeutend damit ist, dass man auch weiß, was man an ihm hat. Und insoweit passt das Wort vom „Geistern“ auch hier ein wenig. Denn das, was Byars macht, was er produziert, bewegt sich jenseits dessen, was sich in den Disziplin-Schubladen „Gemälde“, „Plastik“ oder „Graphik“ ablegen ließe, selbst dann nicht, wenn man ihr tradiertes Verständnis auf heutige Passform brächte. Aber auch das Wort „Konzept“ greift nicht, wenn man es kritisch ansetzt. Man tut sich eben schwer mit seinen „Produkten“, die sich bequemer Einordnung sperren und keinen Markt finden.

Doch auch das, was man vorschnell als „Happening“ oder „Aktion“ deklarieren und registrieren möchte – und was einen erheblichen Teil seiner Aktivitäten ausmacht –‚ erweist sich bei näherem Zusehen als etwas anderes als das, was man normalerweise mit diesem Begriffen belegt. Sein Auftreten ist eher eine Art von „Herzeigen“, von „Aufweisen“ oder „Vorweisen“. Allerdings ohne pädagogisch verkrampften Zeigefinger, ohne platte Direktheit oder ideologischen Eifer. Selbstverständlichkeit und Mühelosigkeit kennzeichnen sein „Herzeigen“‚ das an einen Zauberkünstler erinnert, der ohne Anstrengung das Unwahrscheinliche vollbringt, wenn er seinem Zylinder nicht enden wollende Ketten von Seidentüchern entzieht oder aus enger Schatulle Taube auf Taube entfliegen lässt, so, als gäbe es nichts Natürlicheres auf dieser Welt.

Es ist daher weder zufällig noch willkürlich, dass Byars in die Attitüde des Magiers schlüpft und die Behändigkeit eines Taschenspielers praktiziert. Es geschieht mit System und ist Teil eines Systems, das nichts Handfesteres hinterlassen zu wollen scheint als auch der Goldregen einer Rakete, der sich vor nächtlichem Himmel entfaltet und dessen Glanz langsam und sanft verlischt, ehe er die ach so harte Wirklichkeit des Erdbodens erreicht.

Sie merken: ich umschreibe und bemühe nahezu poetische Bilder, um etwas näher an das zu kommen, was sich der Einstufung so offensichtlich entzieht und was das scheinbar Mühelose so mühevoll konsumieren lässt. Aber liegt vielleicht der Schlüssel zu dem, was Byars „macht“ oder „herzeigt“ (wobei zwischen seinen „Produkten“ und seinem „Vorweisen“ ohne materialen Niederschlag kein essentieller Unterschied klafft) nicht gerade im „Entzug“? Ich meine jetzt nicht nur das Vordergründige, nämlich das Ausweichen vor kategorialer oder kunstmarkt- oder kunstszenenmäßiger Vereinnahmung. Sondern ich meine „Entzug“ als ein beständiges Weglassen. Jedoch nicht im Sinne, wie man ein Stahlblatt durch kontinuierliches Wegschleifen zur messerscharfen Klinge formt. Ich meine nicht einen Prozess, der schließlich zur Schneide führt, sondern den Zustand Schneide schlechthin, jene hauchdünne, nahezu gedachte Linie. Ich meine das Absolute, das sich dem Zufälligen und Bedingten entzieht. Ich meine das „miracle“, das Wunder, in dem das Wirkliche ohne konkrete Wirklichkeitsbezüge erscheint. Ich meine die Wahrheit und Schönheit schlechthin, entblößt aller Determinierungen und Bindungen.

Das klingt anspruchsvoll, vielleicht überzogen – ich weiß. Wer sich jedoch etwas in den Vorstellungsweiten auskennt, die die fernöstliche Kultur tragen und ihr Denken prägen, der entdeckt dort nicht nur Bezüge zu dem so anspruchsvoll erscheinenden, sondern schätzt den Anspruch vielleicht auch nicht mehr für maßlos überzogen ein, wie er sich zugestandenermaßen im Kontext okzidentaler Traditionen und Denkweisen ausmacht.

Byars kennt den Orient, Ostasien gut. Nach seinem Studium der Kunst, Philosophie und Soziologie lernte er Japan bei insgesamt sieben längeren Aufenthalten dort als Englischlehrer kennen. Ihn faszinierte diese europäischem Denken und Lebensgefühl so fremde Welt. Er steht mit diesem Bewundern in einer Tradition, die mit der europäischen Begeisterungswelle für das Porzellan im 18. Jahrhundert begann und sich im ausgehenden 19. Jahrhundert unter anderen am japanischen Holzschnitt (Toulouse-Lautrec zum Beispiel) und Kunstgewerbe (Jugendstil) hochrankte. Im 20. Jahrhundert war es die informelle Malerei, die sich nicht nur in ihrer kalligraphischen Grundstimmung aus fernöstlichen Maltraditionen speiste, sondern mit dieser Hinwendung auch das darin eingeschlossene Gedankengut aufnahm und verarbeitete.

Was wir in dieser Ausstellung sehen – und die Arbeit von Byars insgesamt –‚ ist nun nicht etwa eine Kopie des Orientalen. Wie schon bei den vorausgegangenen Hinwendungen der Kunstgeschichte handelt es sich um eine Verarbeitung. Allerdings, wie ich meine, um eine Verarbeitung, die an fundamentale Wurzeln geht. An Wurzeln, die ich eben mit den Worten „Entzug“ und „Zustand“ anzusprechen und mit den Bildern von einer nahezu nur zu denkenden scharfen Linie einer Schneide und vom wirklichkeitsentblößten Wunder zu umschreiben versuchte. Es geht um Wahrheit und Schönheit als Absoluta, frei von den Zufälligkeiten, an die sie in ihrer jeweiligen Konkretisierung gebunden sind und die eben den Tenor im abendländischen Kunstschaffen wesentlich ausmachen.

Auf das, was ich meine, verweisen im Werk von Byars immer wiederkehrende formale und materiale Grundtendenzen: Da wären zum Beispiel zunächst der Kreis und die Kugel, geometrische Formen und Körper, die ein Höchstmaß von Gleichheit, Gleichgewicht, ungestörter Ruhe und Ausgeglichenheit in sich beinhalten, Sie tauchen in dieser Ausstellung immer wieder auf: in Stoff, in Papier, in Stein. Da wären des Weiteren die Farben, immer mental besetzte Farben – Farben, die Tiefe, Wert, Entrückung signalisieren: Gold und Rot, Schwarz und Rosa und Weiß. Und dann auch die makellose Exaktheit der Ausführung: scharf geschnittene Kanten, sorgfältige Faltungen, millimetergenaue Steinbearbeitung. Aber auch die mit System gepflegte Ungenauigkeit, die Regelmäßigkeit des Unregelmäßigen in den geknitterten Papieren. Schließlich gehören hierhin auch die Materialien selbst: in sich ruhende und aus sich heraus leuchtende Stoffe, seidenglänzende Gewebe und Seidenpapiere.

Den Wortschatz von Byars überwuchern auffällig Worte wie „perfect“ (perfekt)‚ „marvellous“ (wunderbar), „phantastic“ (phantastisch) oder auch „great“ (groß, großartig), die auf der gleichen Ebene anzusiedeln sind wie seine formalen und materialen Vorlieben. Sie signalisieren eine Erhebung, ein Überziehen im Sinne von Hinüberziehen in einen Bereich, der dem Üblichen, dem Behafteten und Bedinungsunterlegenem entzogen ist.

Eines der insgesamt hundert Einseitenbücher, die im Obergeschoss des Museums ausgebreitet sind und von denen jedes einen eigenen Text trägt, enthält den Satz: „I like a thought without words“ (ich liebe einen Gedanken ohne Worte). Hier sind wir wieder deutlich auf jene messerscharfe Schneide verwiesen, die zwei Welten trennt - das Mögliche und das Unmögliche - und auf die sich Byars mit fakirhafter Sicherheit niederlässt, die er aufsucht etwa auch in der Linie oder dem Punkt, die sich erst unter einer starken Lupe als gedruckten Satz zu erkennen geben. Die Ausstellung hat viele Beispiele dafür: Das weiße Blatt Papier, umgeben von einem großen Rahmen - das Stück hängt auf dem Treppenabsatz des Obergeschosses - hat zum Beispiel in der Mitte einen winzigen Punkt. Er ist gebildet aus den Buchstaben G R als Abkürzung für GREAT (groß, großartig). Und am Ende des langen, vom Glasdach des Treppenhauses bis in das Erdgeschoß reichenden roten Fadens klebt ein winziges goldenes Quadrat. Und noch winziger ist dessen gedruckte Inschrift MIRC. als Kürzel für MIRACLE (Wunder).

Das Unscheinbare ist ein Mittel des Stils, d.h. eine Art des Herzeigens, die für Byars typisch ist. Die Vitrinen im straßenseitigen Nebenraum des Untergeschosses scheinen fast leer. Auf rotem Samt enthalten sie nur eine winzige Goldnadel oder eine kleine Flagge, eine Flagge, wie sie hier im Saal dann ins Gegenteil umschlägt, nämlich in die nun schon wieder unwirkliche Größe von 3,33 m in Höhe und 33 m Länge. Oder – um beim Unscheinbaren zu bleiben – das weiße, halbkreisförmige Seidentuch an der Wand eines der Räume im Obergeschoss trägt an seiner Oberkante, genau in der Mittelachse, eine kaum größer als stecknadelkopfgroße weiße Kugel, die erst bei äußerst intensiver Betrachtung des Stückes entdeckt werden wird. Im gleichen Raum befinden sich auch zwei kreisförmige Sandsteinscheiben. Sie Iiegen exakt aufeinander und halten ein weißes Seidenpapier zwischen sich gepresst mit der weißen Inschrift „Mood“ (Laune). Das Unscheinbare ist in das Unsichtbare‚ das Verborgene umgeschlagen.

Im Schaffen von Byars spielt das Fragen, das beständige und bohrende Insistieren eine wichtige und nicht zu übersehene Rolle. Er entwickelt das Fragen bis zum Feuerwerk. Doch ohne auf Antwort zu warten. Fragt er überhaupt? Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass Fragen sich normalerweise auf Antwort richtet, und zwar selbst dann noch, wenn sie billigerweise nicht zu erhoffen ist. Sein Fragen geht nicht ein Ziel an, ist nicht prozessualer Natur, sondern gleicht einem Balanceakt, ist gleichgewichtig und statisch.

Diese große Flagge im Saal trägt die perforierte Inschrift „T H F I T O I N P H“, die Abbreviatur für „THe First TOtally INterrogativ PHilosophy“ (Die erste allumfassend fragende Philosophie). Diese Abbreviatur ist des Häufigeren noch in dieser Ausstellung zu finden und sie erscheint auch – Gold auf Schwarz gedruckt – auf einem langen Streifen Seidenpapier in der Kassette, die wir anlässlich dieser Ausstellung herausgeben. Die „allumfassend fragende Philosophie“ erscheint im Gewand einer statischen Behauptung. Sie ist weder Frage, noch enthält sie Antwort, sie „ruft“ nicht nach etwas, sondern „beschwört“ Erscheinen, schafft einen Zustand.

Soweit solches beschwörende Schaffen von Zuständlichkeiten Byars dem Bildkünstlerischen zurechenbar macht, trifft er einen weit zurückreichenden Nerv dieser Gattung. Denn in Lascaux oder Altamira war Magie mehr als nur beiläufig beteiligt.

So schließt sich letztlich das Dreigestirn Wahrheit, Schönheit, Magie zu einem Zirkel, den aufzubrechen Byars nicht am Werk ist, sondern den er bestätigt.

Unsere Ausstellung besteht nicht aus einer Addition einzelner Werke. Die Exponate können zwar einzeln betrachtet und gewertet werden. Doch sie bilden zugleich auch eine Einheit – und zwar zugeschnitten auf diesen Ort hier und diese Gelegenheit.

KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG

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KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG
JAMES LEE BYARS, 21.4.–22.5.1977

Schachtel aus mit goldfarbenem Papier kaschiertem Karton, schwarzer Aufdruck auf der Seite, Text auf Innendeckel und ‑boden, geklebt, 20 × 15,7 × 7,5 cm 

Im Schachtelboden sind aufgedruckt Titel und Impressum, im Schachteldeckel der Text TH FI IN PH“ von J. Cladders. Die Schachtel ist gefüllt mit einem zusammengeknüllten Bogen aus schwarzem Seidenpapier, verborgen auf dem Papier befindet sich der Aufdruck TH FI IN PH (= THe FIrst TOtally INterrogative PHilosophy) 

(Vermerk Impressum: Diese Kassette entstand unter Mitarbeit von James Lee Byars in einer Auflage von 330 nummerierten Exemplaren.)

Auflage: 330 nummerierte Exemplare 

Preis in der Ausstellung: 6 DM

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Verzeichnis der ausgestellten Werke

Das Verzeichnis folgt der Versicherungsliste, Typoskript, 26.4.1977, Archiv MAM.

1 Die philosophische Flagge, 1977, 3,33 x 33 m, Kunstseide
2 Ruf: Lao-Tzu, Po-Chü-I Tumu…, 1977, ø 2,78 m, Seide
3 Der vorgetäuschte Gott, 1977, ø 4, 48 m, Seide
4 Der Teufel, 1977, ca. 25 m, Kunstseide mit Acryl gefüllt
5 Steinbuch mit eingelegter Seidenpapierseite, 1977, Seidenpapier mit Farbstift, 2 Sandsteinplatten, 4 cm hoch, ø 73 cm
6 The Lucky Stone, 1977, Sandsteinkugel
7 Das Einseitenbuch, 1972, Papier
8 Titel einer New Yorker Byars-Shakespeare-Darstellung, Papier
9 Das Stück vom Tod, 1977, Papier
10 Einseitenbuch mit imaginärem Einband, 1977 (the play of GR), Papier
11 Einseitenbuch mit imaginärem Einband, 1977, (The play of death), Papier
12 Exlibris, 1977, Goldpapier
13 Der Telepath, 1976, Nadel aus Goldpapier
14 Seite und Text des Miracle play, 1977, Goldpapier
15 Lies: TH FI TO IN PH, 1976, Papier
16 100 Einseitenbücher, 1977, Papier bedruckt
17 Die 100 Ja.Le.By., 1977, gefaltetes Papier
18 50 Seidenbücher, 1976, Seide
19 The play of GR, 1977, Papier
20 Triptychon, Papier unter Glas, dreiteiliges Objekt, Mittelstück: 134 x 35 cm, zwei Seitenstücke: je 35,5 ø cm
21 Papier unter Glas ø 68 cm
22 Tonband
23 Stern-Objekt

drei Holzrahmen, Glas, Papier, Gr. ø der Rahmen: ja 145 cm

Kassettenkatalog

Einladungskarte / Plakat / Druckerzeugnisse

Archiv Fotografien

Archiv Dokumente / Korrespondenz

Archiv Presse

Jupp Schmitz sah James Lee Byars, in: Rheinische Post, 23.4.1977
CJ [Claudia Junkers], Die Künste eines Magiers. Im Museum Seltsames: James Lee Byars, in: Westdeutsche Zeitung, 23.4.1977
Reiner Speck, James Lee Byars, in: Der Löwe, Nr. 7, April 1976
Jürgen Morschel, Annehmen einer Herausforderung. James Lee Byars im Städtischen Museum Mönchengladbach, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 115, 20.5.1977
Wolfgang Stauch-von Quitzow, James Lee Byars in Mönchengladbach, in: Neues Rheinland, Juni 1977, S. 48