DIE AUSSTELLUNGEN
UND KASSETTENKATALOGE
DES STÄDTISCHEN MUSEUMS
MÖNCHENGLADBACH
1967–1978

Digitales Archivprojekt
initiiert von Susanne Rennert und Susanne Titz

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JANNIS KOUNELLIS

JANNIS KOUNELLIS JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum III, Foto: Ruth Kaiser, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Grundriss Erdgeschoss 2 neu
Einladungskarte JANNIS KOUNELLIS, 1978

JANNIS KOUNELLIS, 11.5.– 11.6.1978
Jannis Kounellis (1936 Piräus – 2017 Rom)

Erste Einzelausstellung in einem Museum 

EG/ Hochparterre: alle Räume (II, IIIIV)

Rekonstruktion und Text: Susanne Rennert 

Die letzte Ausstellung feiert noch einmal ein Fest für die Erweiterung des europäischen Kunstbegriffs. Seit 1960 macht Jannis Kounellis Kulturbilder für alle Sinne. Daher hat er die wohnliche und historische Hausatmosphäre voll in seine Arbeit mit einbezogen.“ 1(Marlis Grüterich, 1978)

Jannis Kounellis war der letzte Künstler, der im alten städtischen Museum an der Bismarckstraße ausstellte. Mit dieser Ausstellung, die am 11. Juni 1978 zu Ende ging, wurde das neogotische Patrizierhaus, das seit 1945 als Museumsprovisorium gedient hatte, für den Publikumsverkehr geschlossen.2 Man wollte den Umzug in das im Bau befindliche Museum Abteiberg vorbereiten, dessen Eröffnung ursprünglich für Spätherbst 1979 geplant war.

Cladders beendete die Serie von mehr als 80 Ausstellungen und Veranstaltungen, die er, 1967 beginnend mit BEUYS, an der Bismarckstraße initiiert hatte, mit einer programmatischen Manifestation. Wie in zahlreichen vorangegangen Fällen –ANDRE, BUREN, BROUWN, DARBOVEN, LONG et al. – handelte es sich auch bei KOUNELLIS um die erste Einzelausstellung des Künstlers in einem Museum. Dies ist insofern erstaunlich, als der damals 42-jährige, in Rom lebende gebürtige Grieche nicht nur zweifacher documenta-Teilnehmer war (documenta 5, 1972; documenta 6, 1977), sondern auch früh schon an bahnbrechenden Ausstellungsprojekten teilgenommen hatte. Wie beispielsweise 1969 an Wim Beerens Op Losse Schroeven (Amsterdam/​Essen), an Harald Szeemanns Live in Your Head! When Attitudes Become Form (Bern/​Krefeld) und an Konrad Fischers und Hans Strelows Prospect 69 in der Düsseldorfer Kunsthalle. 

Ausgestopfter Rabe – lodernde Fackeln. Kunst-Einsicht mit Kounellis“3

Für Kounellis waren Ausstellungen immer ein Stimulus, ein Anlass und Anreiz zu kreativem Handeln. Ohne Scheu vor Dimensionen und Attributen gestaltete er sie als phantasievoll verschlüsselte Szenerien mit engem Bezug zum jeweiligen Ort und seiner Geschichte. Immer erzeugte er spezifische, reale Situationen, die sich mit der Realität des Aktionsorts verbanden. Das Ganze war dann jeweils das Werk, auch wenn es aus vielen Teilen und Einzelwerken bestand. Die Elemente, die Kounellis dabei verwendete, waren in ihrem Einsatz variabel. Sie besassen ausgeprägte physische Eigenschaften, deren materielle Qualitäten wie Klang und Geruch, Gewicht und Struktur er mit unterschiedlichen Akzentuierungen zu prägenden Bestandteilen seiner Bilder‘ machte. Kounellis verfügte über einen Fundus von Objekten und Motiven, die er wie Versatzstücke benutzte und veränderte, kontinuierlich bereicherte und je nach Kontext mit neuer Bedeutung auflud.“4

Was Urs und Christel Raussmüller – die aus der Mönchengladbacher Ausstellung die Installation mit dem fragmentierten Apollo für die Zürcher Cosmorex Art AG erwarben –, hier generell in Bezug auf Kounellis‘ offene ortsspezifische Arbeitsweise beschreiben, gilt auch für die Mönchengladbacher Schau. Es war weniger eine Ausstellung, die der Künstler hier präsentierte. Eher eine performative Manifestation. Teils vorab festgelegt,5 teils in situ entwickelt, brachte Kounellis im Museum Mönchengladbach insgesamt sieben Installationen und Werke zur Aufführung“. Mit überwiegend einfachen alltäglichen Materialien (Stichwort Arte Povera“) setzte er Räume in Szene, in denen sich Vergangenheit und Gegenwart, Vergängliches und Gegenwärtiges, anspielungsreich miteinander verschränkten. Seine theatrale Inszenierung generierte starke poetische Bilder, die sich ins Gedächtnis einbrannten. 

Auf goldenen Sohlen“6– Rundgang durch die Ausstellung 

Nur drei Räume hat der Künstler verändert und zweimal schob er seine Objekte in eine Ecke, was den Eindruck des Ausgeräumtseins verstärkt.“7

Kounellis bespielte die drei Ausstellungsräume im EG/​Hochparterre. Das erste Obergeschoss blieb leer. Es ist gut denkbar, dass der Künstler hier – vor dem Hintergrund der ikonografisch und symbolisch stark aufgeladenen Ereignisse“ im Erdgeschoss – bewusst Freiraum ließ. Für zukünftiges Denken und neue Realisationen, die sich woanders manifestieren würden als an diesem historischen Ort, der seit 1967 Kunstgeschichte geschrieben hatte. 

Gleich im Eingang irritiert eine mit Bruchsteinen zugemauerte Tür.“8 Das erste Werk, das die Betrachter:innen im Haus erblickten, war eine on site“ produzierte Arbeit. (Eines der beiden ortspezifischen Werke in dieser Ausstellung, das zweite in Raum IV.) Kounellis und der Mönchengladbacher Steinmetz Cancian hatten die Tür, die vom Treppenhaus in Raum III führte, durch aufeinander geschichtete Steine gänzlich verschlossen.9 Gleich einer Bruchsteinmauer bewahrte die zugemauerte Tür – ein fester Topos in Kounellis‘ Werk – die Spolien der Geschichte. In diesem Fall der Mönchengladbacher Geschichte.

JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, vermauerter Durchgang vom Treppenhaus zu Raum III, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, vermauerter Durchgang vom Treppenhaus zu Raum III, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, vermauerter Durchgang vom Treppenhaus zu Raum III, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Die nächste Tür stand offen. Sie führte in den Gartensaal. Dazu Amine Haase in der Rheinischen Post: In dem großen Raum, der von der Straßenseite bis zum Garten reicht, befindet sich knapp vor der Stufe zum (leeren) Wintergarten ein Podest mit dem halbierten Kopf einer antiken Skulptur; aus dem Ohr sticht eine blaue Glasflamme. Daneben hängt ein mit Goldlorbeer bekränzter Filzhut, vor dem Schuhe mit goldenden Sohlen liegen. Eine optische Metapher von seltsamer Poesie, deren nachtwandlerische Bildsicherheit verblüfft.“10 Marlis Grüterich kommentiert in der Kunstzeitschrift Panteon: Hier wird ein Symbol antiker Kunst der Gegenwart angenähert. In einem langen, sonst leeren Saal hängt an der Wand ein Dichterhut mit goldenem Lorbeer; vergoldete Sohlen abgetragener Schuhe geben dem Alltag poetischen Glanz; das Gipsgesicht einer römischen Statue wird von einer Flamme in der Schläfe bedroht und belebt. – Die Heroine nimmt die Züge einer Frau an.“11

JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Gartensaal (II), Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Gartensaal (II), Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Gartensaal (II), Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Gartensaal (II), Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Gartensaal (II), Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Gartensaal (II), Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Vom Gartensaal gelangte man in Raum III, der wegen der zugemauerten Tür vom Treppenhaus her nicht zugänglich war. Dort zeigte Kounellis die Installation mit dem fragmentierten Apollo (dem Beschützer der Künste und der Musik), einem ausgestopftem Raben (dem Symbol für Weisheit), zwei Stühlen und einem Tisch. Werner Krüger schreibt in Neues Rheinland: Das mit Apollo‘ betitelte Ensemble versammelt triviale Bestandteile abendländischer Ikonographie: Auf einem Tisch verstreut liegen die Teile eines griechischen Apollo-Gipsabdrucks, gelb bemalt, am Kopfende bewacht von einer ausgestopften Kaiserkrähe, am Fußende, gegen einen Stuhl gelehnt, ein Cello, das zur Benutzung einlädt.“12 Marlis Grüterich in der Kunstzeitschrift Panteon: In dem von hier aus erreichbaren kleinen Zimmer an der Straßenseite wird die Antike zeitgenössisch. Dem zerstörten europäischen Urbild der Künste, dem Gott Apollo, gibt strahlendes aufgetupftes Gelb Lebenswärme. Apollos Kunst macht das daneben auf einem Stuhl abgelegte Cello optisch hörbar‘. In diesem Zimmer agiert die Kunst in Person. Sie öffnet die Tür zu den Schichten der Geschichte, die anfangs vermauert schien.“13

Interessant ist, dass diese Installation ursprünglich Bestandteil einer Aufführung war, in der Kounellis selbst als Performer aufgetreten war. Dazu Bernd Growe: In einer unbetitelten, 1973 entstandenen Arbeit sitzt der Künstler mittig hinter einen breiten, rechteckigen Tisch, auf dem gipserne Bruchstücke des Apoll von Belvedere angeordnet sind. Auf dem Fragment der Brust hockt ein Rabe, der sich dem Künstler zuwendet, während der Künstler selbst seine Physiognomie mit dem maskenähnlich vorgehaltenen Kopfstück des Gottes verdeckt. Ein wenig abseits sitzt ein weiterer Herr auf einem Stuhl und wiederholt auf seiner Flöte fortwährend Auszüge aus Kompositionen Mozarts.“14

JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum III, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum III, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum III, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum III, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum III, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum III, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Neben dem Gartensaal lag der dritte Ausstellungsraum (Raum IV), der vom Treppenhaus zu betreten war. Hier wurden zwei Werke kombiniert, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten, doch dasselbe Entstehungsjahr teilten – 1969. Im Ergebnis wirkte der Raum wie ein zusammengehöriges Environment. Ein Environment, das alle Sinne ansprach und nicht nur zu sehen, sondern – wegen der Kerzen- und Gasflammen – auch zu riechen und hören war. Auf einer der beiden Längswände hing, unweit des Fensters, das sich zum Museumsgarten hin öffnete, eine mit Kreide beschriebene Eisentafel. Sie trug die Aufschrift Libertà o morte. W Marat W Robespierre“. Daran befestigt eine Konsole mit brennender Kerze. Die Eisentafel, Kounellis‘ sogenanntes Revolutionsbild“ von 1969, wurde ringsum gerahmt von einer Reihe verschieden langer Eisenstangen. Sie waren an Haken befestigt. An jeder Stange, ebenfalls an Haken, hingen Gasbrenner, die über einen Gummischlauch mit einer – auf dem Boden stehenden – Gasflasche verbunden waren. Hier ließ Kounellis eine ortsspezifische Arbeit passgenau für den Austellungsraum in Mönchengladbach produzieren, die er erstmals 1969 gezeigt hatte.15 Das Feuer, in diesem Raum ein zentrales Element, stand im Gegensatz zur sommerlich grünen Natur, die durch das Fenster im Raum präsent war. Marlis Grüterich fasst in Panteon ein Resümee: Ein ähnlich verschlüsseltes Objekt W Marat, W Robespierre‘: Aus Düsen, die in Augenhöhe in regelmäßigen Abständen an der Wand angebracht sind, schießen Gasflammen. In der Mitte dieses Arrangements befindet sich eine schwarze Tafel, auf der zu lesen steht: Freiheit oder Tod‘ – W. Marat. W Robespierre‘. Eine Kerze, an der Tafel befestigt, wirft schummriges Licht auf die mit Kreide geschriebenen Zeilen.“16

Marlis Grüterich: Feuer, das Grundelement der Kultur, symbolisiert ihr Stirb und Werde‘. Gasflammen erhitzen die Atmosphäre um das Revolutionsbild Tod oder Leben – es lebe Marat – es lebe Robespierre!‘ Das ältere Kerzenlicht unter der Schrift dagegen soll Anstrengung und Ausdauer spürbar machen, die die Kultur verlangt. Im Museum von Mönchengladbach konnten die Künstler das klarmachen. Hoffentlich geht es nächstes Jahr so weiter.“17

JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum IV, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum IV, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum IV, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum IV, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum IV, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
JANNIS KOUNELLIS, Museum Mönchengladbach 1978, Raum IV, Foto: Unbekannt, Archiv Museum Abteiberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Finale: Freiheit oder Tod

Ephemere Werke, die ein Gefühl von Zeitlosigkeit transportieren: Zum Abschluss der Ära Cladders in der Bismarckstraße 97 wurden hier noch einmal grundlegende existentielle Fragen aufgeworfen. Wurde reflektiert über das Werden, Vergehen, Überdauern von Kultur und über die gesellschaftliche Relevanz von Kunst. Die Ausstellung spannte einen weiten Bogen durch die abendländische Kulturgeschichte, der von der griechischen und römischen Antike über die Französische Revolution bis ins Mönchengladbacher Hier und Jetzt reichte. Die Fotografien, die Ruth Kaiser in dieser letzten Ausstellung aufnahm, vergegenwärtigen ihre besondere Atmosphäre und die Aura ihrer Werke. 

1978 – 2008 

Die in diesem Haus geleistete Arbeit strebte an, Einsichten zu vermitteln und unsere Sinne zu schärfen. Im Hinblick auf dieses Bestreben scheint mir die Ausstellung Kounellis ein geeigneter, mit einem leichten symbolischen Schlenker versehener Abschluss. Ich hoffe, dass der Geist, aus dem die Ausstellungen dieses Hauses erwuchsen, mit in das neue Haus wandern kann.“18(Johannes Cladders, 1978)

In einem bewegenden Text, den Johannes Cladders 2008 über das Werk von Kounellis veröffentlichte, erinnerte er auch an die Ausstellung, die dreißig Jahre zuvor das Ende der Veranstaltungstätigkeit im provisorischen Museum an der Bismarckstraße markiert hatte. Im Jahr vor seinem Tod schreibt Cladders: 

Etwas Dunkles haftet vielen Arbeiten von Kounellis an. Schwarz dominiert seine Bildsprache. Kohle, in groben Brocken oder in Jutesäcke gepackt, ist ein von ihm immer wieder für seine Objekte gewähltes Material. Vom Feuer hinterlassene Brandspuren werden zum dauerhaften Bestandteil seines Werks. Vergangenes weht den Betrachter an, Geschichtliches wird gegenwärtig. Es zischt in den Gasflammen, die aus den Torsi von Gipsen antiker Skulpturen züngeln oder aus zahllosen, einen ganzen Raum okkupierenden Brennern strömen. Zerbrochene Glasscheiben lassen Heiles imaginieren, Stahlplatten Stärke und Dauer mitdenken. Zugemauertes, Gefesseltes, Gepresstes, Aneinander Geschraubtes ketten Gewesenes zu einer neuen Existenz in unserer Erinnerung zusammen: erloschene Geschichte im Mythos zum Leben erweckt. Kounellis wandert durch die Geschichte Europas. Auf seinem Weg liest er ihre Relikte auf, Zeugnisse von Arbeit, Mühen und Unterjochung, von Leiden und Bitterkeit, von Kampf, Aufstand und Befreiung, von Religion, Kunst und Philosophie, von Natur und Technik und auch von Liebe und Hass. Er baut aus ihnen eine Welt auf, die unsere Augen verstehen und deren poetische, epische Gestalt sie lesen können. Und in der eine Hoffnung auf Freiheit brennt, wie sie auch in der letzten Strophe des Gedichts Die Skythen von Alexandr Blok formuliert ist (Ich finde die englische Version treffender als die deutsche): Now, for the last time, see the light, old world! / To peace and brotherhood and labour – / our bright feast – for the last time you are called / by the strings of a Scythian lyre!“19

Kassettenkatalog KOUNELLIS, 1978
Kassettenkatalog KOUNELLIS, 1978
Kassettenkatalog KOUNELLIS, 1978

Kassettenkatalog KOUNELLIS

Das Gedicht von Aleksandr Blok lag – in deutscher Übersetzung – Kounellis‘ Kassettenkatalog bei. Mit diesem Kassettenkatalog schloss sich ein Kreis. Er nimmt schon äußerlich unmittelbaren Bezug auf die Schachtel von Beuys, die 1967 am Anfang des Editionsprojekts Kassettenkataloge“ stand. In der Schachtel von Beuys liegt die mit Braunkreuz gestempelte Filzplatte, die für das – Material und Materie durchdringende – Wärmeprinzip steht. Kounellis verwendet elf Jahre später Feuer als Metapher für geschichtliche Prozesse, für Vergänglichkeit, Zerstörung und Transformation. Seine Schachtel enthält ein Objekt mit Schwarzpulver-Kerze unter Papierflies, das auf einer Asbestplatte fixiert ist. Die Schwarzpulver-Kerze lässt sich wie eine Zündschnur anzünden. Ein helles zischendes Leuchten, das eine schwarze Rauchspur auf der grauweißen Platte hinterlässt … 

Kassettenkatalog BEUYS, 1967
Kassettenkatalog BEUYS, 1967
Kassettenkatalog BEUYS, 1967
Kassettenkatalog KOUNELLIS, 1978
Kassettenkatalog KOUNELLIS, 1978
Kassettenkatalog KOUNELLIS, 1978

Quellenangaben / Anmerkungen

Johannes Cladders Rede zur Eröffnung der Ausstellung

Die Einführung vorgefundener Materialien in die bildende Kunst, die Verwendung von technischen Geräten und Naturelementen wie Feuer und Wasser ist nicht neu und deswegen auch nicht mehr überraschend. Sie setzte sich seit den ersten Jahrzehnten unseres 20.Jahrhunderts mehr und mehr durch; sie läuft parallel den tradierten und weiterhin geübten Techniken von Malerei, Skulptur und Graphik und hat wie diese ihren festen Platz im Kunstschaffen gefunden. Die Einführung von in der älteren Geschichte der Kunst nicht vorkommenden Materialien und Verfahrensweisen ist nicht selbst das Bemerkenswerte im Kunstgeschehen unserer Tage. Das Bemerkenswerte ist vielmehr die immer deutlicher erkennbar werdende Tatsache, dass der Umgang damit vollkommen eingeübt wurde. Er ist sogar zu einer solchen Perfektion gediehen, dass er souverän für Absichten eingesetzt werden kann, die nur noch beiläufig die Verwendung des früher so Unüblichen zum sich selbst spiegelnden Gegenstand haben. Während einerseits die Skulptur und die Malerei im traditionellen Sinne als Bildhauern und Malen sich selbst zum Thema nehmen oder - sich selbst rechtfertigend - auch nehmen müssen, reflektiert sich andererseits die Verwendung des einfach vorgefundenen Materials immer weniger in der Kunst. Sein Gebrauch benötigt keine Rechtfertigung mehr, er ist selbstverständlich geworden. Er ist in eine Phase vollkommener Dienstbarkeit und Verfügbarkeit getreten, so, wie früher über den Gebrauch von Pinsel, Meißel oder Stift, von Farbe, Stein, Holz, Bronze oder Graphit nicht erst nachgedacht zu werden brauchte.

Dies als allgemeiner Vorspann zur Ausstellung Jannis Kounellis. Die Gipsabgüsse von Skulpturen, die Gasflammen, ausgestopften Vögel, Wunderkerzen, Metallplatten, Musikinstrumente, Tische, Naturstein-Mauerwerke und anderen Gegenstände, mit denen Kounellis arbeitet - und die er auch in dieser Ausstellung verwendet - demonstrieren nicht sich selbst. Sie sind nicht als Beweisführung für ihre materiale Schönheit oder Verwendbarkeit eingesetzt. Sie sind vielmehr eingesetzt für etwas anderes, für etwas, das nicht ihre reale Existenz selbst betrifft. Sie haben Verweisungscharakter. Sie machen sich selbst vergessen zugunsten eines Eindrucks, einer Einsicht und Erfahrung, die jenseits von Ansichten und Einsichten im Bereich des materialen So-Seins, der Faktizität, liegen.

Für einen Picasso oder Braque der kubistischen Periode etwa war der Einsatz vorgefundener Materialien im Rahmen einer gemäldeartigen Collage eine Möglichkeit, den Realitätsanspruch eben eines solchen Gemäldes zu steigern. Für die Dadaisten verband sich der Einsatz des Vorgefundenen mit der Absicht des Umsturzes, mit einer Kunst wie Leben umfassenden Infragestellung. Eine Künstlerpersönlichkeit wie Marcel Duchamp intellektualisierte diesen Problemkreis. Er relativierte und legte den Grund zur beliebigen Verfügbarkeit. Die Künstler des Nouveau Réalisme um 1960 profitierten dann von ihm wie auch von den Dadaisten. Der Tenor - sehen wir einmal von Künstlern wie Yves Klein ab - lag schließlich in der Ausbeutung des Faktischen, des Realen zum Nutzen einer neuen Ästhetik.

Bei Kounellis ist das anders. Auch er beutet natürlich aus - wie jeder Künstler sein Material auf seine Möglichkeiten hin ausschlachtet -‚ und er erzielt auch ästhetische Ergebnisse. Doch das alles tritt zurück vor der Einsicht in etwas völlig anderes. Um diese Einsicht geht es. Aber eben diese Einsicht verbal zu definieren, ist das Schwierige, im Grunde genommen kaum Mögliche. Denn was uns in diesem Werk gegenübertritt, ist bildende Kunst, nicht Literatur. Die Arbeiten leben aus der Vieldeutigkeit der Anschauung. Sie sind zwar nicht beliebig interpretierbar, aber im Rahmen des Vorgegebenen äußerst subjektiv deutbar. Solcher Subjektivität unterliegen auch meine Versuche, die Einsicht, die das Auge durch Anschauen gewinnt, mit Worten nachzuzeichnen.

Objektiv fassbar ist die Vorgehensweise von Kounellis. Sie bedient sich der Gegenüberstellung und der Auslösung dialektischer Prozesse. In diese Prozesse ist zunächst das ganze Haus, in dem die Ausstellung stattfindet, einbezogen. Auch die leeren Räume und die leeren Flächen, vor denen kein Werk installiert ist. Gerade in der Gegenüberstellung von „leer“ und „besetzt“ signalisiert sich, dass das ganze Haus als Ausstellung gemeint ist. Allerdings nicht im Sinne eines Environments, d.h. eines Kunstwerks, dessen wesentliches Charakteristikum darin besteht, sich in der räumlichen Ausdehnung als Werk erst zu realisieren.

Dem Gegensatzpaar „leer“ und „besetzt“ entspricht ein anderes in dieser Ausstellung, das man mit „Stille“ und „Geräusch“ umschreiben kann. Nämlich „Stille“ provozierend zu produzieren, setzt Kounellis das „Geräusch“ ein. Ein aggressives, zischendes Geräusch, wie es die Gasbrenner erzeugen.

Weitere Gegensatzpaare sind die von „Offenheit“ und „Verschlossenheit“; von „Alt“ und „Neu“; von kulturell bereits „Vorbesetztem“ und von solchen Dingen, die wir nicht ohne weiteres in den Kontext des Kulturellen stellen.

Die genannten Gegensatzpaare stehen sich nicht einfach nur gegenüber. Sie sind vielmehr so untereinander verbunden, dass sich vielfältige Widersprüche in sich selbst bilden. Wie schon im Beispiel der „geräuschvollen Stille“ sich zwei Unvereinbarkeiten mischen, so auch bei der zugemauerten Tür, deren Türfunktion, nämlich Durchgang zu sein, in den geöffneten Flügeln für das Auge erhalten bleibt. Dem Ohr, Organ für die Aufnahme von Geräuschen, entströmt in der Arbeit mit dem Gipsabguss eines antiken Kopfes Geräusch. In dieser Arbeit trifft zudem auch zusammen, was einerseits unsere Vorstellung von Kultur wesentlich mitprägt, nämlich die antike Skulptur, und andererseits das, was wir einer profanen Arbeits-und Alltagswelt zuordnen, nämlich das Gasgerät.

Der vielfach ineinander verwobenen und komplexen Gegensätzlichkeit entwächst eine ebenso komplexe Metaphorik. Schließlich lebt ja die Metapher aus der Zusammenfügung zweier Begriffe, die üblicherweise nicht zusammengebracht werden. Und speziell die Metapher der Barockzeit konstituiert sich sogar aus äußerst Gegensätzlichem. Von daher wird erst verständlich, wenn Kounellis seine Arbeiten gern - und speziell diese Ausstellung - als „barock“ bezeichnet. Seine Metaphern sind natürlich keine Literatur. Deswegen knüpft er seine Erläuterung des Barocken auch nicht an Dichtung, sondern am Beispiel einer Skulptur an. Bernini schuf in Rom die sicherlich vielen bekannte Skulptur mit dem kleinen Elefanten, auf dessen Rücken sich ein alter ägyptischer Obelisk erhebt. Das Werk steht auf einem kleinen Plätzchen in der Nähe des Pantheons. Wie in dieser Skulptur zwei eigentlich einander fremde Dinge sich gegenüberstehen, sich aber zu einem Neuen - wie es auch in der Metapher geschieht - verbinden, so auch in den Werken von Kounellis.

Es braucht nicht eigens betont zu werden, denn es ist offensichtlich: der mediterrane Raum und seine Geschichte spielen auf die verschiedenste Weise in die Metaphorik von Kounellis hinein. Da sehen wir eine Mauer, die ihre Anklänge an die im Mittelmeerraum seit undenklichen Zeiten üblichen Trockenmauerungen nicht verleugnet. Da präsentieren sich die Gipsabgüsse antiker Skulpturen und Gasflammen erhalten Bezüge zu olympischen Fackeln. Der Hut wird zur Kopfbedeckung eines Hirten, sein vergoldeter Blattschmuck zum Lorbeerkranz. Selbst die alten Schuhe mit vergoldeter Sohle gewinnen mythologische Qualität.

Kounellis ist gebürtiger Grieche und lebt in Rom. Die Bezüge zur mittelmeerischen Welt nehmen daher nicht wunder. Wenn er an den Begriff Kultur in seiner Fülle und höchsten Steigerung denkt, dann denkt er - viel stärker als wir - in Kategorien der klassischen Antike.

Mediterran, so könnte man sagen, ist auch die Härte, die Aggressivität in diesen Werken. Sie erinnert an eine Landschaft unter unerbittlicher Sonne und an eine Mentalität, die Auseinandersetzungen im übertragenen wie wörtlichen Sinne „bis aufs Messer“ auszutragen bereit ist. Doch in gleicher Weise ist auch das Lyrische, das dieses Werk unverkennbar überlagert, von mittelmeerischem Hauch. Das Spiel einer Panflöte scheint in der Luft zu liegen.

Zu Beginn war von den Einsichten die Rede, die das Werk von Kounellis vermittelt, und vom jeweils subjektiven Charakter ihrer Deutung. Mir scheint, dass wir beim Subjektiven längst angekommen sind. Sicherlich aber wird die Einsicht, die uns vermittelt wird, nur aus persönlichem Aspekt heraus lesbar. Wir gewinnen, so meine ich, Einsicht in eine tief wurzelnde Kritik. In eine Kritik, die sich nicht auf Bestimmtes, Konkretes, Handgreifliches richtet, sondern undeutlich, sich bewusst vom Tagesgeschehen distanzierend, in einer Art sozi-kulturellem Raum hängt. „Politisches“, ohne dass darin Politik betrieben wurde, „Kulturelles“, ohne Bemühung um Status, um Repräsentanz, kommt darin zur Anschauung. Der Anschauung läuft ein Prozess der Sensibilisierung parallel, durch die eine Zusammenschau möglich wird, unbekümmert um disziplinare Grenzen zwischen Politik, Gesellschaft, Kultur und Kunst. Es entsteht Einsicht in einen komplexen und globalen Zusammenhang.

Die Ausstellung Kounellis ist die letzte in diesem Haus. Weiter geht es erst wieder - voraussichtlich im Herbst nächsten Jahres - im neuen Museum Abteiberg. Wenn in dieser kurzen Einleitung immer wieder von Einsicht und Einsicht gewinnen und schließlich auch von Sensibilität die Rede war, so möchte ich abschließend diese Ausdrücke auf die Absichten der Ausstellungstätigkeit dieses Hauses schlechthin und allgemein übertragen. Die in diesem Haus geleistete Arbeit strebte an, Einsichten zu vermitteln und unsere Sinne zu schärfen. Im Hinblick auf dieses Bestreben scheint mir die Ausstellung Kounellis ein geeigneter, mit einem leichten symbolischen Schlenker versehener Abschluss. Ich hoffe, dass der Geist, aus dem die Ausstellungen dieses Hauses erwuchsen, mit in das neue Haus wandern kann.

KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG

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KASSETTENKATALOG ZUR AUSSTELLUNG
JANNIS KOUNELLIS, 11.5.–11.6.1978

Schachtel aus braunem Karton, roter Aufdruck auf Deckel und Seite, geklammert, 20,3 × 15,8 × 2,8 cm 

Inhalt: 4 Karten, Objekt

Karte mit Titel, verso Impressum 

3 Karten mit fortlaufendem Text des Gedichts Die Skythen“ von Aleksandr Blok (dt.)

Objekt mit Schwarzpulver-Kerze unter Papierflies, auf Asbest-Platte fixiert, Asbest-Platte: 19,7 × 15,3 × 0,8 cm 

Vermerk Impressum: Diese Kassette entstand nach einem Entwurf von Jannis Kounellis.“ 

Auflage: 440 nummerierte Exemplare

Gesamtherstellung: H. Schlechtriem, Mönchengladbach 

Preis in der Ausstellung: 6 DM

sr

Kassettenkatalog

Einladungskarte / Plakat / Druckerzeugnisse

Archiv Fotografien

Archiv Dokumente / Korrespondenz

Archiv Presse

Kurzankündigungen / Meldungen

o. V., Ausstellung J. Kounellis, in: Rheinische Post, 6.5.1978
o. V., o. T. (Mit der Ausstellung Jannis Kounellis...), in: Rheinische Post, 13.5.1978
o. V., o. T. (Um an Ausstellungen...), in: Rheinische Post, 18.5.1978

Berichte / Rezensionen / Kommentare

Au., Hirtenhut und Mythologie, in: Rheinische Post, 13.5.1978
E. J., Ausgestopfter Rabe – lodernde Fackeln. Kunst-Einsicht mit Jannis Kounellis, in: Westdeutsche Zeitung, 18.5.1978
Amine Haase, Torschluß in Mönchengladbach mit Kounellis-Schau. Auf goldenen Sohlen, in: Rheinische Post, 8.6.1978
Werner Krüger, Jannis Kounellis in Mönchengladbach, in: Neues Rheinland, 21. Jg., Nr. 6, Juni 1978
o. V., o. T. (Jannis Kounellis...), in: heute Kunst, Oktober – November 1978
Marlis Grüterich, Initiativen für die Kunst der Gegenwart im Städtischen Museum Mönchengladbach – Die Avantgarde bekommt ein neues Haus, in: Panteon, Oktober – November – Dezember 1978